im bett mit einer leiche *** в постели с трупом

Die große Umtaufe in der Ukraine: das Ende für Roter Oktober, Artjom und Genossen

 

Der Grobian von Swiatohirsk (UA): Genosse a. D. Artjom

Rot ist der Osten, die Fahne, die Partisanen, die Arbeiter und Bauern, die Armee, der erste Mai, Kolchose und Sowchose, der Gulag, die Klinik, die Dienste, Marx. Engels, Lenin, Stalin, Liebknecht und Luxemburg, Artjom, Kirow, Dserschinski, der Stern, die lichte Zukunft und der Wodka. An Rot war kein Mangel, 1917 bis 1991 die rote Periode, mal sehr rot, mal verdünnt und dann wieder blutrot. Die Sekretäre des Zentralkomitees (ZK) als rote Bullen, Betonköpfe, Lenker und Leiter. Dann dankte die SU gottseidank ohne Bomben und Granaten, dafür aber mit Getöse ab. Das von autoritärem Klebstoff mit Gewalt zusammengehaltene 15-teilige Imperium kollabierte in national pubertierende Puzzle-Republiken, manche wie die Balten der Demokratie mehr zugeneigt als andere (Ukraine, Georgien, Armenien), manche wie Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan, Kasachstan, Belarus verzichteten gänzlich auf dieses unberechenbare Instrument und verliehen ihren Präsidenten unkündbare Abonnements. Greifen wir aber die Ukraine als Spezialfall heraus.

 

Ukraine also: 1991 einer der drei wichtigsten Totengräber der SU, bis 2004 meist unter dem Radar der weltpolitischen Beobachter unterwegs. Einzig das atomare Mahnmal Tschernobyl strahlte weit über 1986 hinaus nach Westeuropa. Und das war ja nicht gerade Tourismuswerbung für das blaugelbe Land. Bis dann die uralte Tendenz zur Anarchie und zum Drang, seine Notdurft am Beine der Machthaber zu verrichten sich Bahn brach. Und ab da, ab der sogenannten Orangen Revolution 2004 (vulgo: Maidan I) war das Land immer wieder präsent in der westeuropäischen und angloamerikanischen Wahrnehmung. Wenn auch meist nur für sehr kurz. Wie auch immer, Ruslana, Eurovision Songcontest in Kiew 2005 und die Fußball-Euro 2012 taten ihre Wirkung.

 

Er wollte hoch hinaus, er endete als leerer Sockel: Genosse Lenin 

Der Machtwechsel von der westorientierten zur ostaffinen Clique und die handfesten Folgen im Zuge des Maidan II 2013/14 wurde dann innert Tagen zum Fanal eines nachhaltigen und wie es scheint endgültigen Bruchs zwischen dem wiederbelebten Imperium an der Moskwa und dem Hort der Dnipro-Kosaken, dem ewig als "klein" apostrophierten, ostslawischen Bruder zu Moskaus Westen. Der Krieg brach aus, oder: wurde vom Zaun gebrochen, je nach Lesart. 2014 – Krim. Donbass. Ikonische Kampfstätten: Slawjansk, Donezk, Mariupol, Ilowaisk, Debalzewo. DNR und LNR. ATO (Spätestens jetzt lohnt sich ein Blick ins Ost-Glossar). Eine Katastrophe für alle Beteiligten. Die Sprengmeister gingen allerdings bis jetzt fast ohne Konsequenzen von dannen. Bei den Blaugelben reifte jedenfalls der Beschluss, die Okkupanten auf recht innovative Weise zu bestrafen: in dem man die Ukraine von allen Ikonen der SU befreite - und das ziemlich gründlich.

 

Im inoffiziellen Prolog, durchgeführt vom „spontanen Volkszorn“ bisweilen zweifelhafter Protagonisten des rechten Ufers ging es hunderten Denkmälern an den Kragen: Lenins Körper, Torsos, Büsten wurden quer durchs Land vom Sockel gekippt, manchmal begleitet von wenig appetitlichen Losungen. Andere Statuen, Gedenktafeln und Denkmäler wurden mit roter Farbe (oder: blau und gelb, sic !) überschüttet und somit in einen neuen Kontext gerückt. Grenzfälle wie etwa die riesige Statue des Stalowar (Stahlkocher) auf dem Mittelstreifen der Autobahn Mariupol – Donezk wurden kurzerhand in ukrainisches Trachtengewand (Größe XXXXXL) gesteckt und somit ideologisch „umgedreht". Paradoxe Intervention auf Ukrainisch ! Auch das war aber bloß Geplänkel gegen die kartographische Dampfwalze, die man dann  - diesmal ganz offiziell und staatlich befugt - von Uschgorod bis Starobilsk rollen ließ. 

 

"Euer Idol" (stand hier), zurück blieb eine kleine Ruine (Kleban Byk/UA)

 

Diese Walze war in zweiter Linie kartographisch (da man seit 2016 ihre Auswirkungen auf jeder Landkarte sehen kann), in erster Linie war sie eine staatliche Verordnung, welche die Änderung hunderter Ortsnamen befahl und in der real wahrnehmbaren Welt bald ihren Niederschlag fand, man denke an Ortstafeln und Hinweisschilder, Bahnhöfe und Busbahnhöfe, Fahrpläne, Navigationssysteme und Ansichtskarten. Der offizielle Terminus dazu: Dekommunisierung. Entbeinung der Ukraine zwecks erhoffter Gesundung. Historiker reklamierten auch den Begriff De-Imperialisierung in den Diskurs. Jedenfalls wollte man sich der vielen Ortsnamen mit kommunistischer bzw. sowjetischer Ideologie und Geschichte entledigen und damit ein weiteres Zeichen der Abgrenzung zum neuerdings so übergriffigen Nachbarn im Osten setzen. Und so entschloss man sich zu solcherlei Umstülpungen: Pokrowsk statt Krasnoarmijsk (Rote Armee), Myrnohrad statt Dimitroff (bulgarischer Kommunist), Bachmut statt Artjomowsk (Funktionär der frühen KPDSU).

 

Auch die roten Partisanen hatten ausgedient, aus der südukrainischen Steppenstadt Partisany wurde das etwas dröge Rykowe. Bisweilen entstanden seltsame neue Wortgebilde, vor allem dort, wo man vergaß, die Bevölkerung in die Wahl des neuen Ortsnamens einzubinden. Beispiel ? Aus dem zentralukrainischen Kirowograd (Kirow: prominentes ZK-Mitglied der Stalin-Ära) wurde das für Zahnprothesenträger riskante Kropywnyzkyj ! Selten, aber doch ging der Dampfwalze etwas durch die Lappen und man entdeckt zufällig im westlichen Donbass (=unter ukrainischer Kontrolle) … einen in Stein gemeißelten, riesenhaften Genossen Artjom, der in martialischer Werktätigen-Pose auf den Fluss Nördlicher Donez und den orthodoxen Wallfahrtsort Swiatohirsk hinunter blickt. Nicht dass dieser Genosse leicht übersehen werden könnte, nein, er ist sogar vom Gastgarten eines weltlichen Branntweiners in Swiatohirsk unschwer auszumachen. Nun, auch eine Dampfwalze darf einmal einen Aussetzer haben. 

 

Ehemals mondän, heute ein Wrack, theoretisch immer noch buchbar: Hotel Tourist in Mariupol/UA

 

Die Ortsnamen wurden also von Links- auf Zentralscheitel umfrisiert, Straßennamen in den Städten detto. Interessant erscheint, wer oder was den Platz der roten Kommissare oder die bisherige Leerstelle einnimmt. So nennt sich der zweite Flughafen Kiews seit 2018 nicht mehr Schuljany, sondern Sikorsky (der ukrainische, in den USA berühmt gewordene Hubschrauber-Pionier). Stadt des Friedens (Myrnohrad) statt ZK der KPDSU (Dimitroff) klingt plausibel, vor allem für ein Land, das sich im Krieg mit einem aggressiven Nachbarn befindet. Sogar der unaussprechliche Kropywnyzkyj (Theatergründer aus dem 19. Jh) scheint den dunkelroten Kirow klar auszubooten. Allerdings bleibt die Frage offen, was mit den einzigartigen Monumenten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew geschieht. Der heute beinahe grotesk anmutende „Bogen der Völkerfreundschaft“ (ja, er bezieht sich auf die ewige Freundschaft zwischen dem russischen und dem sowjetischen SOWJETvolk) ist ebenfalls im Visier der staatlichen Dekommunisierer, eine Variante ist der völlige Abriß ! Und die Ostvariante der New Yorker Freiheitsstatue Rodina Mat (Mütterchen Heimat) hoch über dem Nationalfluss Dnipro. Eine Pause oder ein Abklingen des Rasenmäher-Patriotismus wäre eventuell zu überlegen. Innehalten und dem Kreativ-Paradoxen Raum verleihen. Das real existierende Vorbild kennen wir bereits: den stahlkochenden Autobahnwächter in Mariupol !

 

 

 

 

 

 

DIE BRAVEN WEISSEN *** МОЛОЦИЕ БЕЛЫЕ

Was tun in einer Stadt, in der man vom Boden essen kann ? Gomel (Belarus/BY) macht ratlos.

Bloß einer unter vielen: Hbf. Gomel (BY)

 

Das Intro: ein wuchtiger Bahnhof. Davor: schaumgebremstes Durcheinander. Taxisten mit Taxametern (!). Läden, Buden, brave Steuerzahler. Das magische (?) Dreieck beginnt hier: das städtische Navigationsdreieck aus Lenina, Sowjetskaja und Peremohi. Innerhalb und entlang dieses Dreiecks findet man: Restaurants, Imbissläden, Cafes, Putzereien, Optiker, Frisiersalons, Supermärkte, Apotheken und sogar einen Army-Shop. So weit, so ... normal. Die Hotels ? Weit draußen am Rande der 500 000 Einwohner-Stadt. Die Attraktionen ? Vermutlich gerade zur Wartung in Minsk oder Moskau.

 

Die Belustigungen ? Nun, ein bunt irrlichternder Springbrunnen im Zentrum, daneben das postmoderne Gesäule des Zirkus (hinter dem sich das Einstern-Hotel "Zirkus" - nona - versteckt), zwei Terrassenrestaurants mit eingebauter Disko, das wars dann schon im Zentrum. Jaja, es gibt so etwas wie ein zweites Stadtzentrum, vier Trolleybus-Stationen östlich des Zirkusareals. Dort punktet der klar als solcher erkennbare Aufmarschplatz (der Leninplatz, inklusive der pflichtschuldigen Riesenstatue des Namensüberlassers) mit - viel Platz. Für den Autoverkehr, die Fussgänger und verschiedenste Leistungsschauen, wie etwa: das Militär, die Kinder, die Flussmarine, die Gewerkschafter der Regionaladministration oder: die Feuerwehr samt Katastrophenschutz.

Rotes Blaulicht am Leninplatz: Kind & Kegel, gehorsam.

 

Dahinter beginnt das erstaunlich weitläufige Areal eines Parks, der den Leninplatz einfriedet, mehrere Kirchen umgürtet und den Fluß, die Sosch, säumt. Eine mutig ausholende Fussgängerbrücke (mit Einschränkungen auch für Radfahrer verwendbar) ermöglicht einen Panoramablick auf das grüne und doch recht mächtige Gewässer. Am anderen Ufer: Beach Life Ost mit netten Leuten, mässigem Bier (Bobrov) und schlechter Musik (EDM !). Spazierengehen, Laufen oder Radfahren bis zum Abwinken ist dort möglich. Am beliebtesten scheint jedoch das Entspannen am Sandstrand der Sosch, Schwimmen oder Plantschen in derselben und/oder: das kriegsähnliche sich beschallen lassen mit oben genannter "Musika".

 

Ohne Gehörschutz und mit verblüffender Gleichmut wird diese diagnosewürdige Tat der lokalen "DJs" hingenommen. Nun ja, man könnte auch konstatieren: endlich mal was Unbraves hier ! Womit wir beim Kern unseres Pudels namens Gomel (Verallgemeinerungen auf ganz BY wollen wir uns hier verkneifen) wären. Kurz gesagt: in dieser Stadt herrscht Ordnung ! Es gilt das Gesetz ! Es wirken die Regeln ! Es ist sauber, sehr sauber. Das Leben erscheint sehr berechenbar und: berechenbar und: man ist vorsichtig, gegenüber Mitbürgern (der imaginäre Schlapphut !), ebenso gegenüber Fremden, hier nicht permanent Aufhältigen.

 

Fahradverleih für Service-Allergiker (Gomel/BY)

 

Beobachtungen aus dem Strassenverkehr: es ist unmöglich, als Fussgänger Kreuzungen "zeitsparend" (=diagonal oder mit Abschneidern) zu überqueren, massive Geländer verunmöglichen das. Nichts für eilige und/oder nervöse Zeitgenossen, zumal die dortigen Ampelphasen unglaublich lang sind, vor allem die roten. So lang, dass man in der Wartezeit einiges erledigen kann: sehr ausführliche SMS schreiben, sich einen Imbiss genehmigen plus Nachschlag, eine Zeitung fertiglesen, seinem Kinde via Mobiltelefon ein vollständiges Märchen diktieren ... Ja, das mag übertrieben klingen. Aber: der Ortsfremde verfügt nur über eine Aufenthaltserlaubnis von fünf Tagen ... und es zählt in Zeiten wie diesen ja immer öfter die gefühlte Realität !

 

Übrigens: wir haben keinen einzigen fußgehenden Bürger getroffen, der auch nur daran gedacht hätte (woher wissen wir das wohl ?), bei rot die Strasse zu überqueren, ähnliches gilt für unsere p.t. weißrussischen Autofahrer. Niemand kann das besser beurteilen als ein ziemlich orts- und mentalitätsunkundiger ausländischer Radfahrer, der auf wohnzimmerteppichgleichen Strassen durch die zweitgrößte Stadt Weißrusslands gleitet. Auch die Autofahrer sind gesetzestreu, diszipliniert und wurden demzufolge folglich irgendwann von Stadt, Land oder gar Präsident mit diesen Straßen aus Samt und Seide belohnt  (das Zuckerbrot !).

 

Die Wiege des ostslawischen Reinheitsgebots von 1994: Bahnhofsplatz Gomel.

 

Ja, geehrte Damen und Herren: hier geht es gesittet zu ! Schon Tage im voraus weiss man, was einen erwarten wird, das blitzsaubere Einstern-Hotel fühlt sich an wie sehr altes, aber blitzsauberes Dreistern, Radfahrer radeln quasi Vollkasko, das Gastropersonal agiert aufgeweckt und in etwa so, wie es im Westen erwartet wird. Die Einheimischen quasseln einen Touristen nicht voll, sondern beschränken sich auf die sachlich notwendigen Antworten und man könnte tatsächlich zu blosser Erde seinen Mahlzeit einnehmen. Das ist wohl schon länger nicht mehr vorgekommen. Aber ab und zu erproben ausländische Touristen dieses Gerücht. Auch wir haben es getestet. Es geht ! Es funktioniert !

So wie in der Schweiz und im krassen Gegensatz zu den Verhältnissen beim südlichen Nachbarn Ukraine, wo seit Jahrhunderten so etwas wie eine kreative Anarchie herrscht - mit Ausnahme des sowjetischen Intermezzos 1921-1991 natürlich.

WTF is Břeclav ? *** Что, черт возьми, Брецлав ?

Zwölf Antworten auf eine berechtigte Frage

Gretchenfrage ? Rechts halten !

Mögen Sie die Farbe rot ? Oder lieber blau ? Rot sind die Railjets der ÖBB, blau jene der ČD (Tschechische Bahnen). Nein, es geht nicht um Backbord (rot) und Steuerbord (grün) und auch nicht um die Yellow Submarine. Es ist uns nicht überliefert, dass Bill Ramsey jemals in Břeclav gewesen wäre. Obwohl sie theoretisch auch zu Wasser von Wien nach Břeclav gelangen könnten: via Donau, March und Thaya. (Hat noch keiner ausprobiert. Sollten SIE der Erste sein, dem dieses Abenteuer gelingt, so berichten Sie uns unbedingt, vor allem, wenn Sie nicht gesunken und ertrunken, gestrandet und verdurstet oder überhaupt verschwunden sind). Für diese Geschichte hier einigen wir uns auf die Bahn. Die Orthodoxen unter uns besteigen eine rote oder eben blaue Garnitur am Wiener Hauptbahnhof und landen innert einer Stunde in Břeclav. So.

(1) zur Frage „Was ist Břeclav ?“ – es ist ein Durchhaus. Keiner aus dem österreichischen Süden oder dem polnischen Norden will nach Břeclav (BCV). Sie wollen nach dem pflichtschuldigen 3-Minuten-Stop schnell weiter nach Nordwest: Brno, Pardubice, Praha. Nach Nord: Ostrava, Katowice, Warszawa. Nach West: Mikulov, Hrušovaný, Znojmo. Nach Ost: Hodonin, Uherske Hradi šte, Zlin. Nach Südost: Malacký, Bratislava und nach Südwest: Wien.

Die wenigen, die überhaupt einen flüchtigen Gedanken an Břeclav verschwenden, die wollen genau das: flüchten und weiter, weiter, weiter.

Ist das ungerecht ? Ja, weil Břeclav kein Kurort ist, kein Freizeitparadies, keine Pittoreske. Nein, weil das alles ab dem fünften Besuch nicht mehr stimmt und die Empirie einen zeitlupenhaften Salto zu springen beginnt.

 

(2): Břeclav ist ein Rohdiamant, den man niemals schleifen kann ohne ihn völlig zu zerstören. Ein grobes, ungeordnetes, zerfleddertes Puzzle, dessen Zusammenfügung viele Reisen und viele Aufenthalte braucht. Und es bleibt offen, wie viele Teile dieses Puzzle überhaupt hat – kaum wähnt man das Mosaik endlich und ganz zusammengesetzt, schon tauchen aus dem Nichts neue, weitere Puzzleteile auf.

Es gibt Leute (Ausländer) die Břeclav als nihilistisches Faktotum, andere (der radikale Flügel) sogar als schwarzes Loch Südböhmens bezeichnen. Das ist Unfug, grober Unfug.

Weltklasse in Südmähren: Brauerei Zamecky

 

(3): Břeclav. Ein Hort des Bizarren, des zunächst langweilig, irgendwann aber tonisierend Unkonventionellen. Siehe: das Schloss, das einem längst versteinerten mehrstöckigen Campingwagen gleicht. Gleich dahinter: die Schlossbrauerei, welche Bier in unglaublicher Qualität produziert: den Stier (Kanec), die trinkbaren Auen (Podlužan). Apropos Bier: am jüdischen Friedhof ist ein interessanter Mann aus Monarchiezeiten zur ewigen Ruhe gebettet - Moriz Edler von Kuffner (1854-1939). Er erfand das heute noch immer erhältliche Ottakringer-Bier (pietätvoll verzichten wir hier auf einen Kommentar) samt der Wiener Brauerei. Die von ihm finanzierte und nach ihm benannte Sternwarte befindet sich ebenfalls in Wien 16. Kuffner ist aber ein waschechter Lundenburger (deutsch für Břeclav). Conclusio: Břeclav, die Bierhaupstadt des südmährischen Südens !

 

(4): Břeclav. Ein unauffälliger Hub für neugierige Ostafficionados, die in Břeclav oder Umgebung Rad fahren, wandern, angeln, kegeln, segeln, schwimmen, segelfliegen, fliegensegeln oder edles, lokales Bier trinken möchten.

 

(5): Břeclav. Keine Shopmeile, aber immerhin ein halber Shopkilometer (hoch leben die kapitalistisch irrlichternden Sklaventreiber Albert und Jednota !), das übersichtliche Einkaufszentrum "Břeclove" (sic !) und eine Handvoll an Geschäften, darunter ein schräger Velo-Shop, ein winziger Zuckerbäcker und ein verstaubter Buchladen samt Russisch sprechendem Besitzer.

 

(6): Břeclav. Eine Stadt von der Größe Amstettens, aber mit Synagoge, Thaya-Regatta und einem Open-Air-Lagerhaus. Vielleicht eine Spur hässlicher (pardon: kantiger) als die Mostviertel-Metropole, dafür interessanter.

Hier ruht Herr Kuffner, Gründer der Brauerei Ottakringer, Erbauer der Sternwarte im gleichnamigen Bezirke zu Wien

 

(7): Břeclav. Ein von Internationalität ziemlich unberührter Flecken, trotz naher Autobahn und einer bemerkenswerten Eisenbahndrehscheibe. Die Einheimischen sind und bleiben unter sich, ausländische Spione haben es hier schwer, nicht aufzufallen - das beginnt schon bei der Aussprache des Ortsnamens. Manche dieser Nichtslawen haben die Camouflage übertrieben. Die Stadtpolizisten ließen sich aber kein X für ein U (vulgo: keinen Österreicher für einen Tschechen) vormachen und verfrachteten die durchgeknallten Möchtegern-Agenten in den Gemeindekotter und am folgenden Tag in den Zug nach Österreich. Zur Strafe nicht in den Railjet, sondern in den elenden Regionalzug nach Wien-Floridsdorf. "So geht’s ja wirklich nicht", brummte zu alldem der Břeclaver Bürgermeister gab höchstpersönlich das Signal zur Abfahrt. ...

Hier hausen die legendären Schloss- und Bockbiergeister

 

(8): Břeclav. Eine Stadt der Gewässer und Auen (sogar ein lokales Bier heißt so, s.o.), die verschlungenen Arme der Thaya (Dyje), die unzähligen Fischteiche, die aus dem Nordosten sich heranpirschende March (Morava), der subsaharisch anmutende Stausee von Vestonice, zu Füssen des südböhmischen Vulkans, dem Svatý kopeček (Heiliger Berg).

 

(9): Břeclav. Keine Stadt des kulinarischen Höhenflugs, kein Hort der herzeigbaren Hotellerie (Hotel Teresa – OMG ! Hotel Imos – besser als auf der Straße erfrieren. Penzion Rotunda – ja, falls schöntrinken zugelassen ist). Es ist verständlich, dass manche Ausländer ihre eigene Jause mitbringen. Aber keiner bringt Bier mit, niemals , denn: Břeclav brews its own 1st-class beer !

Dazu mehr im folgenden Kapitel (10):

 

(10): Břeclav. Ein Hort der Landeplätze für Durstige und Bier-Connaisseure. Hier eine lose, aber fast vollständige Auflistung der wichtigsten Kaschemmen, Spelunken, Gasthäuser und Restaurants: Der Irish Pub (ohne jede irische Facette, eher ein Tarnname, Bier: Kanec), das Tropi Bar Cafe (Bernard-Bier ), San Marco (der Wucherer ! Plzeňský und Svijaný), Garaž Club (klein und jung, Plzeňský Prazdroj=Pilsner Urquell), die speckige Bierschwemme U Mostu/an der Brücke (Svijaný), der namenlose Saufschuppen in der Abstellkammer des Kulturzentrums Delta (Podlužan), ein abschreckendes Loch namens Pipi Grill, Cafe Hostina, vormals Tři Pomarancý (Terrasse !), vis-a-vis das Kinobeisl Koruna (Bernard), Cafe Galerie (Podlužan, Kanec), der auf das Wesentlichste reduzierte Schlossbrauerei-Biergarten im Hof der Brauerei Zamecký  (die volle Palette an Podlužan, Kanec und Derivaten), U Kapra (noch ungetestet), U zlomene brusle (in der Eishockeyhalle, Plzeňský), Cyklosfera - der Treff für alle Velo-affinen, Grill, Bar, Spielplatz und viele viele Fahrräder (Podlužan), Areal na Vode (Bauhof, Openair-Bühne und Basic-Bierterrasse, alles sehr improvisiert)(Podlužan), U Čerta (0815-Gasthaus)/Staro Brno, Gambrinus, na ja), Corner Club (halb Beisl, halb Disko)(Starobrno), Pohoda (Podlužan UND Plzeňský) und schließlich: das Bahnhofsresti, die so genannte Lokalka, immer mit illuster-herbem Klientel samt Drachen an der Theke (Starobrno + Starobrno Drak). PS: es lohnt sich, diese Liste parallel zum Pivo Ranking zu genießen !

 

(11): Was also ist Břeclav, als Befund von mehr als zwei Dutzend Besuchen unserer Redaktion ?

Es ist wie eine neue Bekanntschaft, die man zunächst gleich wieder loswerden möchte, weil sie irgendwelchen persönlichen Schönheits- oder sonstigen idealen nicht standhält, aber dann zeigen sich unerwartet die inneren Werte. Und alles nimmt seinen gottgewollten Lauf ...

 

(12): Hier steht irgendwann Ihre Antwort ...

 

Fahren Sie hin oder nicht, ganz egal, wir sind ohnehin schon dort.

 

*Albert und Jednota: kein Komödianten-Duo, sondern zwei tschechische Supermarktketten

Nickerchen am Asowschen Meer *** Нап на Азовском морe

Begraben sein: wo Tatare, Armenier, Russe und Ukrainer sich Gute Nacht sagen.

Eine proto-touristische Miniatur.

 

 

Tetjana: Malerin, nicht Landstreicherin

 

Herr T. aus R. im weit entfernten Westen döst auf einer Liege an den Gestaden des Asowschen Meeres, das er bis vor kurzem nicht mal vom Hörensagen kannte. Mittlerweile kennt er es vom Hören, Sagen, Duften und auf der Haut fühlen. T. war einst Durchschnittsbürger, ein Otto Normalverbraucher, ein Anzug von der Stange. Bis ihm der Anzug zu eng wurde und er in einem cholerischen mehrwöchigen Anfall die Scheidung betrieb – und nach einem bemerkenswert brutalen Rosenkrieg auch vollendete. Übrigens träumt er gerade jetzt wieder einmal von einer dieser unschönen Sequenzen, das Gefecht ist erst seit wenigen Monaten zu Ende und noch rauchen die Trümmer.

 

All das war auch einer der Gründe, warum T. sich in eine solch extreme Peripherie wie Henitschesk zurückgezogen hatte. Das Nötigste an Kleidung, ausreichend Bargeld plus Kreditkarte und ein one way Ticket Bratislava – Kiew – Saporoschje. Sein Arbeitgeber ist im Bilde und lässt T seinen gigantischen Resturlaub – angesammelt in zehn Jahren – mittels dieser Flucht abbauen. Was auch daran liegen könnte, dass T.´s Boss an der Trennung von T. und A. (die Verflossene) nicht ganz unbeteiligt war, aber das gehört nicht hierher. Jedenfalls: T. hat bereits eine Woche lang die Gegend beschnüffelt und dergestalt die eine oder andere Preziose entdeckt. Auch von diesen Schmuckstücken des europäischen Ostens träumt er jetzt – und davon träumt er natürlich lieber als vom ehelichen Bürgerkrieg.

 

 

 

"Henitschesk ohne Drogen" ?

 

Die Sonne wird gerade von dünnen Wolken verhüllt und T. bemerkt es nicht, das mickrige eine Grad an momentaner Abkühlung reicht nicht, um ihn zu wecken. Das wäre auch schade, denn T träumt jetzt von Katja. Katja gibt es wirklich, sie arbeitet in der Sommersaison im wahrscheinlich schönsten Strandcafe von Henitschesk, im Domino. Jeden Tag sitzt T. dort auf seinem Lieblingsplatz nahe der Bar, mit Blick aufs Meer und genießt die aus Osten wehende Brise. Vormittags ist sein erster Besuch, da trinkt er einen Ristretto.

 

Nachmittags ein Tee, schwarz und abends dann Katja, blond. Ähm, die vorangegangene Unschärfe (kein Fehler !) ist kein Zufall, denn T. gerieten jedes Mal die Gehirnströme in Unordnung, wenn Katja abends ihren ersten Auftritt hatte: ohne es zu wissen hatte sie gewissermaßen den Laufsteg immer bei sich, trug ihn nicht vor sich her, sondern bewegte sich in naiver Unschuld darauf wie eine grazile und doch kräftige Sportlerin. T. ertappte sich bei den schrägsten Gedanken, Fantasien und sogar: Worten – und zwar IHR gegenüber.

 

So beschaulich der Vormittag im Domino immer verlief und auch der Nachmittag, so breathtaking (zavorash ivajushi) gestaltete sich der Abend. Um dieses Chaos irgendwie in den Griff zu bekommen, hatte T. schon über verschiedenste Wege nachgesonnen: a) mehr Alkohol als sonst – keine gute Idee, es wäre so, als würde man betrunken seinen Lieblingsfilm im Kino ansehen  b) kein Alkohol – besser, weil er dann alles ungetrübt wahrnehmen könnte, gemeint ist Katja oder  c) mal einen Abend aussetzen, um die Nerven zu schonen – hatte sich nicht bewährt, weil er sich täglich an Katja sattsehen wollte (satt konnte man bei ihr aber niemals werden, so murmelte er eines Abends zu sich selbst) Was also tun? Nichts, beschloss er und fand sich mit sich selbst als labiles männliches Lebewesen ab.

 

Suchbild advanced

 

Und war er nicht gewarnt worden, vor der Abreise aus R. ? Einerlei, dachte er, ich bin hier und sie ist es auch. Welche Form sein Hirngespinst annehmen würde, war und blieb vorderhand völlig unklar. Und dieser eigenartige Zustand gefiel ihm von Tag zuTag besser. Bier trinken oder Cognac trinken oder auch nur Tee (mit Cognac) und schwelgen im Angesicht einer blonden ukrainischen Fee aus slawischem Fleisch und Blut, samt konformer Seele. Kein Moralist, schon gar kein westlicher weit und breit. Und es war ja auch nicht das Geringste passiert – bisher.

 

Einmal hatte er einen schrägen Gedankengang, schräg, aber nicht gänzlich von der Hand zu weisen: diese Gedanken tauchten auf, als er eines späten Abends in einer Disko ein Gutenacht-Bier schlürfte, mit der Absicht es danach gut sein zu lassen. Alle möglichen Bilder, Erlebnisse der vergangenen Tage, Begegnungen, Rätsel und Überraschungen tauchten auf und gingen wieder.

 

Und dann war da plötzlich, wie aus dem Nichts, das Wort Honigfalle, das wie eine grell glühende Neonschrift in seinem Inneren erschien. Ein faszinierendes Wort, sinnlich, vielversprechend, verführerisch, romantisch – und gefährlich, sehr gefährlich. Sozusagen ein skorpionisches Phänomen. Geheimdienste, Mafia, Übelmeinende aller Art stellen Honigfallen auf. Das angestrebte Produkt der Begegnung mit einer Honigfalle ist gemeinhin Kompromat (kompromittierendes Material), mit dem dann, wenn das Honigtöpfchen leer ist, der Honigdelinquent auf irgendeine – jedenfalls höchst unangenehme – Art konfrontiert wird.

 

Am Muschelstrand von Birjutschi

 

Die Sitte, die Polizei, ultranationalistische Rabauken oder eben staatseigene Agenturen oder deren private Ableger halten dann dem Honigjunkie das Kompromat unter die Nase und die Hand auf. Diese Hand kassiert dann entweder sehr viel Geld oder den Reisepass oder gar beides. Autsch ! Ein Windstoß, ein umfallender Sonnenschirm hat T.`s Bauch erschreckt und auch dessen Besitzer, der in der Sekunde aufspringt und zu begreifen versucht, was hier los ist. Kaum etwas. Jedenfalls bedeutend weniger als in seinem Traum gerade stattgefunden hatte. T. richtet den Schirm auf und springt auf die Ufermauer aus massivem Beton, beschattet seine Augen mit der flachen Hand und späht auf das ockerfarbene Meer.

 

Weit draußen ist es smaragdgrün, als wäre dort ein ganz anderes Gewässer. T. späht und ist erleichtert, diesen Traum hinter sich zu haben. Dennoch bleibt ein Rest des Honigs in seinen Gedanken kleben. "Nun werd mal nicht paranoid, mein Freund“, so flüstert er in den aus Russland her wehenden Ostwind. Er atmet die salzige Brise ein und beschließt, sich das allabendliche liebliche Chaos nicht von an den Haaren (oder: Schlapphüten) herbeigezogenen Fantasien vermiesen zu lassen.

 

T. hat Klarheit geschaffen, nun macht er Pläne. Einen Schlachtplan ohne Schlacht. Dennoch geht es um ein Manöver. Ein solches bedarf der seriösen Vorbereitung. Und so macht T. sich zurecht für den Abend, der ihn möglicherweise (jaja!) auch ins Domino führen wird. T. schlendert durch den spärlich beleuchteten Eingang zur Strandmeile (nach westlichen Maßstäben ist es dort zappenduster), vorbei an den immer in maximaler Bereitschaft verharrenden Taxisten, am georgischen Tschatscha-Verkäufer (kaukasischer Fusel !), an der Freiluft-Reisebüro-Madame Nadeschda, am Eiskiosk – und erreicht das Restaurant People.

 

Ein leidlich zubereitetes Diner mit erträglichem Bier. Eine Livecombo verkündet lautstark ihren Dienstbeginn. Zu laut befindet T. , zahlt und wandert weiter. Vorbei an den bunten Kinderbelustigungen, der schrillen Eisenbahn, dem brüllend grellen Schaukelding, den nervtötend batteriejaulenden Miniautos, die Kinder ferngesteuert vom rauchenden Papa.

 

Aquapark "Maximum Retro": Alte Eisenbahnbrücke bei Henitschesk/UA

 

Mit einem Kaffee in einem winzigen no-name Lokal versucht er den Zeitpunkt hinauszuzögern. Welchen Zeitpunkt ? Diesen: er betritt das Domino, dass fast vollbesetzt ist, richtet seinen Blick zur Bier, winkt dem Barmann Schenya zu, sucht und findet einen freien Platz. Wartet, trommelt nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Er möchte bestellen und vor allem will er bei ihr bestellen. Es dauert. Die Minuten verrinnen zäh wie – Honig. Endlich kommt sie.

 

Nein, es ist Viktoria, nicht sie. T. bestellt sich ein Bier und erfährt, dass Katja heute nicht Dienst hat. Erst übermorgen wieder. Übermorgen ! T. schwankt zwischen Wut, Trauer und etwas Undefinierbarem. Viktoria bringt das Bier und bekommt gleich den nächsten Auftrag: die Rechnung ! Ja, heute ist nichts mit Geduld, so brummt T. Zahlt, erhebt sich, Augenzwinkern zu und von Schenya. Der Sound der Kiewer Elektropop-Band Bambinton begleitet ihn auf die Promenade, der Song Kambeka ruft ihm noch lange nach (Domino-DJ plays loud !).

  

T. ist etwas von der Rolle, mit dieser Absage seiner Katja hatte er nicht gerechnet. Er tut etwas gegen seine Gewohnheit, er trinkt ziemlich über den Durst. Natürlich auch aus Frust. Vier Lokale hat er schon durch. Ein Drink noch und dann ab in die Falle, sinniert er, beschließt er. Und der letzte Drink wird wo stattfinden ? Im Goldfish, nicht der edelste Schuppen hier, aber ein außergewöhnlich kompetenter DJ heilt hier die Nichttänzer. Nun denn, T .betritt die Goldfish-Disko, vernimmt tatsächlich bekömmliche Beats und begibt sich zur Bar. Bestellt ausnahmsweise ein Westbier (nein, kein Heineken), nimmt, zahlt, dreht sich in Richtung Dancefloor. Wer tanzt drei Meter vor ihm, anmutig und mit geschlossenen Augen ? Unglaublich, aber wahr ?

 

T. reibt sich Augen, Herz und Seele. Sie ist es ! Da tanzt sie. T. ist  plötzlich sehr klar im Kopf: mit wem ist sie hier ? Mit ihrem Freund ? Hat sie überhaupt einen ? Es stellt sich heraus, mit ihren Freundinnen. Sie hat ihn noch nicht bemerkt. Er beobachtet und tarnt sich. Katja kommt an die Bar, um Getränke für ihre Clique zu holen. Ihre Blicken treffen sich. Guten Abend sagt T mit samten-belegter Stimme. Oh, guten Abend, so eine Überraschung, so Katja mit ehrlicher Freude. Schnitt. Zwanzig Minuten später. Katja und T stehen vor dem Eingang und rauchen (no smoking inside).

 

Henitschesk hat also ZWEI Bahnhöfe, der andere ist für Erwachsene

 

Ton aus. Was sehen wir ? Einen vor Präsenz glühenden T. und eine aufmerksam lauschende Katja. Dann werden T.´s Gesten etwas heftiger, worauf Katja sich halb abwendet, in die andere Seite der Nacht rauchend. T. hält inne, wirft seine Kippe weg und zieht Katja zu sich. Sie wehrt ihn ab, mit halber Kraft. Beide schweigen und wirken etwas unsicher. T. sagt etwas, worauf nach einer längeren Pause Katja in ihre Handtasche greift und etwas auf ein Papier kritzelt. Sie reicht T. mit einer schwer zu deutenden Bewegung das Papier. Der nimmt es wie einen sehr wertvollen Gegenstand entgegen, scheint sich zu bedanken.

 

Dann – Überraschung – umarmen sich die beiden, kurz und doch sanft. Katja verschwindet im Goldfish, T. steckt Katjas Papier wie einen neu erworbenen Diplomatenpass in seine Jacke und wandelt bedächtigen Schrittes zu seinem Quartier, fast alle bemerken eine deutliche Veränderung in seinen Gesichtszügen: Nadeschda, der Georgier, der Eisverkäufer und immerhin drei der fünf Taxisten. Ton an. Musikfetzen von drei verschiedenen Diskos, startende Taxis, surrende tiefhängende Stromleitungen, Stimmengewirr russisch, ukrainisch, tatarisch. T. schläft bereits. Er träumt von …

 

***

 

APPENDIX. Ein  Jahr später: Katja macht Urlaub in Ägypten, Hurghada, das Rote Meer gibt sich blau und grün. Gleich am ersten Abend wandert sie gemeinsam mit Anna, ihrer Schwester, den Strand entlang. Es brandet, rauscht und gischtet. Das blonde Haar der defilierenden Damen saust in alle Windrichtungen. Man genießt. Schweigt. Bis Anna plötzlich „Da !“ ruft. Auch Katja bemerkt, sieht. Nun ja, es ist bloß eine Flasche. Eine ziemlich große, unbeschädigt, grün und - kräftigt verkorkt. Das ist interessant. Anna lässt Katja den Vortritt, sie hat bereits das Treibgut geborgen und von allerlei anhaftendem Zeig befreit. Die Flasche ist leicht, weil leer.

 

Das heißt, es ist keine Flüssigkeit darin – aber etwas anderes. Katja wird ungeduldig – schon wirft sie einen faustgroßen Stein auf die Flasche. Sie zerbirst nicht gleich, aber doch. Wie eines dieser chinesischen Glückskekse. Jetzt hockt auch Anna im Sand vor den Scherben der grünen Flasche. Katja hat einen halb vergilbten Brief in einem feierlich wirkenden, blassgelben Kuvert entdeckt. Sie zieht ihn mit spitzen Fingern aus dem Scherbensalat und flüstert: eine Flaschenpost ! Wie romantisch ! Anna pflichtet bei. Mit ihren aufgeregten kleinen Fingern nestelt Katja sie am Kuvert herum, sie benötigt mehrere Versuche, bis sie nach einem kräftigem „Ratsch“ das Kuvert – und seinen Inhalt – in zwei Hälften gerissen hat.

 

Asow-Safari ohne Helm

 

Anna nimmt ihr in der typischen Art älterer Geschwister die Papierhälften aus der Hand, ordnet sie und gibt sie Katja zurück, als wüsste sie, dass dieser Brief nicht für sie bestimmt ist: Lies ! Katja überfliegt die mit grauer Tinte gedrechselten Zeilen, hält den Atem an und ihr Teint bekommt in Sekunden eine überaus kräftige, rote, Note. Es ist von ihm ! Haucht sie atemlos ! (Anna:) Was, von deinem T. ? Von damals ? Ja, flüsterte Katja und ihre Aura nimmt die Gestalt einer Heiligen aus Swiatohorsk an. Auch Anna ist jetzt etwas röter als sonst, sie erweckt Katja zu weltlichem Leben, indem sie diese knufft und fordert: Nun, lies schon vor ! Doch Katja springt auf, läuft fünfzig Schritte davon, ins Licht der Promenade. Sie liest – und kommt bedächtigen Schrittes zurück zu Anna. (Anna:) Nun ? fragt sie ihre innerlich zerzauste Schwester. Katja zögert, atmet tief und seufzt dann: er liebt mich ! (Anna:) Ach, Schwesterlein ...

 

 

 

 

 

Mariupol (UA): Griechischer Wein, FAST ganz ohne Udo Jürgens

Wie lebt man zwischen Stahlvulkanen, Straßensperren und Asow-Geplätscher ?

 

Abschied von Mariupol: das Herz weint, die Lunge jubelt ...

 

Mariupol. Ein klingender Name für  den, der im papierenen oder digitalen Autoatlas darüber stolpert. Mariupol, das ist Frontstadtatmosphäre, OSZE-Jeeps in weiß und immer mit Fähnchen, ein von damals (2014) noch sichtbar angesengtes Rathaus, stattliche Checkpoints (Blockposten) XXL an den Stadteinfahrten sowie das allgegenwärtige Stahl-Aroma. Und nicht zuletzt liegt Mariupol am Meer, am Asow´schen. Aber der Reihe nach.

 

Mariupol ist eine griechische Gründung aus längst verflossener Zeit. Und das griechische Element ist auch heute noch präsent, nicht auf den ersten Blick freilich. Beispiele ? Manche Vororte von Mariupol könnten dem Klang nach auch in Kreta oder am Peloponnes angesiedelt sein: Chersones, Makedonivka zum Beispiel. Es gibt eine aufgeweckte griechische Community, die mehrere tausend Mitglieder umfasst – letztlich aber doch nur einen schweren, süßen Tropfen im Meer der mehr als 400 000 Einwohner der Metropole am Asowschen Meer darstellt.

 

Genug von altem Wein in  noch älteren Schläuchen. Wichtiger die kernige Frage: wie lebt man hier ? Viele scheinen gerne hier ihr Domizil zu haben, obwohl die Perlenkette an „obwohls“ eine recht lange ist. Ja, manche sind gerne hier, weil sie hübsche Lage am Asowschen Meer schätzen – obwohl der große, grimmige Nachbar seit geraumer Zeit die Daumenschrauben der Isolation anzieht. Manche lieben die weitläufigen Parks samt Restaurants und Belustigungen – obwohl die Genossen Achmetow und Konsorten durch ihre ungezügelte Stahlkocherei die Stadt täglich in eine Art Niedrigtemperatur-Sauna verwandeln. Der Stahl umgürtet mit seinen riesenhaften Werken die Metropole, er ernährt sie und er nimmt ihr gleichzeitig die Luft zum Atmen. Asowstal, Illitsch-Stal, so heißen die Verköstiger und Züchtiger in einem. Noch so ein Obwohl.

 

 

Über die Autobahn Mariupol-Donezk wacht Mr. Stalovar, der Stahlkocher ...

 

Touristen und OSZE-Kontrolleure (und ein Häuflein Touristen) haben mit Erstaunen bemerkt, dass man in Mariupol nicht nur tadellos griechisch essen gehen kann, nein, auch mehrere Hotels, Cafes und Restaurants mit regionaler bis internationaler Küche buhlen um die seltene Gunst des auswärtigen Gastes oder häufiger: die des Einheimischen der oberen Mittel- bis Oberschicht. Auch Forschende im Genre „Morbiditäten des europäischen Ostens“ kommen gewiss auf ihre Kosten: Ein längerer Spaziergang durch das Stadtzentrum, vor allem aber entlang der Uferpromenade zwischen Hafen und Bahnhof fördert Preziosen zutage: Schwimmklubs, Ruderklubs, Jachtklubs, Tauchklubs, alle untergebracht in massiv angejahrten Gebäuden, die sich vor lauter Patina  (auch: Rost) kaum noch auf ihren Fundamenten halten können.

 

 

Eine bemerkenswert präsente Moschee präsentiert sich ungeniert inmitten einer weitläufigen Parklandschaft, das Kaufhaus Ukraina überrascht mit internationalem Sortiment von interstellarer Telefonie bis zu schwerelosen indischen Leinenhosen für den Herrn von Welt. Ein namenloses Kleinrestaurant im Zentrum dämmert in Trübnis dahin, spät stellt sich heraus, dass der Chef eine der wenigen ist, die sich öffentlich zu blau-gelb (=zur Ukraine) bekennen - Mariupol, eine umtoste Insel in unfreundlich brandender See ? Wie auch immer, die Restaurants und Diskotheken entlang des Strands sind im Juni mäßig frequentiert, die Strände aber dicht belegt, obwohl die am Horizont dräuenden Silhouetten der feuerspeienden Stahlfabrikmonster den Zeigefinger der ökologischen Bedenken zu schwenken scheinen.

 

 

Zwischen Strandboulevard und Strand verläuft eine doppelgleisige Bahntrasse. Zur Gewährleistung der allgemeinen Sicherheit und zwecks Zähmung des ruhelosen Strandvolks stellt die Bahn im Abstand von 200 Metern Wächter zur Verfügung bzw.: hin. Ihre Aufgabe ist es schlicht, der Bahn ihren Vorrang und den Badehosenpassanten ihr Leben zu garantieren. Im Falle einer plötzlichen Motivationskrise des Wärters springt schon mal dessen Gattin/Tochter/Nachbarin ein, um ersteren zu vertreten. Ein Minimundus-Kabäuschen dient den Bahnwärtern als Refugium. Zigarettenwohltäter sind hoch angesehen.

 

 

Kalifornien ? Vielmehr der Gemeindestrand von Mariupol

 

Verwegene Ausländer können sich sogar ein Fahrrad mieten, um damit die Stadt und ihre Umgebung zu erkunden. Es sei angemerkt, dass dies ein ziemlich abenteuerliches (auch: gefährliches) Unterfangen darstellt. Nein, die Automobilisten von Mariupol sind nicht das Problem, sie agieren umsichtig und flexibel. Auch Behelligung durch Milizionäre (Polizisten) ist nicht zu befürchten. Auch grössere Steigungen hat die Stadt nicht aufzuweisen. Das, was dem Velopedisten in Mariupol wirklich alles abverlangt, das sind die Unwägbarkeiten der Strasse, genauer: der unangekündigten Bodenwellen und Schlaglöcher, beide nicht im Bereich weniger Zentimeter angesiedelt, sondern durchaus so beschaffen, dass ein unachtsamer Rallyefahrer damit sein Problem hätte. Der Blokpost-Testpilot hatte  wahrlich Glück. Auf der Rückfahrt vom „Stalovar“ (das Monument der Stahlkocher von Mariupoler) auf der Stadtautobahn geriet der Proband unversehens an eine Betonkante mit anschließendem Abgrund. Ob er stürzte ? Ja, sogar kopfüber. Aber sämtliche west-östlichen Schutzengel verhinderten Schlimmes. Unverletzt und fahrfähig, wenn auch mit gleich zwei platten Reifen, was bedeutete: zu Fuß die 10 Kilometer bis ins Zentrum. Nun ja, solange man imstande ist, der Nachwelt darüber zu berichten ...

 

 

Der westliche Rad-Proband bzw. dessen einspuriges Gefährt

 

So nahmen die lokalen Architekten vor 30 Jahren den Krieg vorweg ...

 

Hier ist wohl ein kurzer, aber notwendiger Exkurs bzw. Rückgriff auf die 1990er angebracht. Udo Jürgens hat angeblich hier am Strand von Primorsky mehrere Sommerurlaube verbracht – incognito, denn hier im periphersten Südosten der Ukraine, hier kannte ihn definitiv keiner. Außer dem einzigen Einheimischen, der aufgrund seines erbarmungswürdigen Migrationsschicksals (Deutschland !) den Herren mit dem Saxofon auf dem weißen Sakko kannte, bzw.: erkannte. Nun, ein weißes Sakko ist ja an keinem Ort der Welt eine Camouflage, aber das lassen wir dahin gestellt. Jedenfalls verdanken wir dem wachsamen Ukrainer einige Informationen, die wir nun mit Ihnen teilen können. Fragen tun sich auf. Einige. Was tat Herr Jürgens, um seine Identität zu verbergen ? Tja, nicht viel, außer dass er im Hotel seinen Alt-Pass verwendete  - dieser lautete auf den Namen Udo Bockelmann. Aber sonst machte er sich kaum die Mühe, sich zu verkleiden, zu verstellen oder gar zu verstecken. Gesehen wurde er (von unserem Kronzeugen) in verschiedenen Clubs am Strand und in einem leidlich bekömmlichen Restaurant nahe der Innenstadt. Keine Beobachtungen liegen zu unseriösen Stätten der Gastronomie im weiteren Sinne vor. Allerdings wurde uns die Story zugetragen, dass unser Schlagertitan eines Abends im griechischen (sic !) Restaurant Knossos nach ausgiebigem Dinee (und mehr als einem Gläschen), ergriffen von der Atmosphäre, den Ambitionen der Liveband – und von sich selbst, dass er also in diesem Zustande plötzlich die Bühne erklommen hätte und mit großer Geste zu einem künstlerischen Gastbeitrag ansetzte. Raten wir, welches Liedchen er sich anschickte zu trällern.

 

Die Antwort ist sehr einfach und naheliegend: Griechischer Wein. Natürlich. Leser, die jetzt auf eine Breitseite gegen den singenden Delinquenten spekulieren, sei gesagt, dass es darum jetzt nicht geht.  Denn (1): diese Version des griechischen Weins war die wahrscheinlich beste aller Zeiten. Denn (2): die anfangs befremdete Combo schwang sich sehr schnell ein auf den Ductus der von Herrn Bockelmann intonierten Weise. Und die Band interpretierte sie auf eine Art, die Applaus verdient. Denn (3): Ein gegenüber dem Original völlig veränderter Rhythmus paarte sich mit einem überaus gewagten Einsatz der Bläser und einem interessant subversiven Ansatz des rechtmäßigen Sängers und Bandleaders. Mit der kraftvollen „Schweineorgel“ (so benannt durch Bandleader Igor), die zu später Stunde aufgrund des mit Stahlstaub vermischten Meeresaromas immer verblüffend schräge Töne produzierte  entstand ein musikalisches Amalgam, das man eigentlich komplett neu etikettieren müsste. Nein, nicht bloß übersetzt ins Russische „Grezkoe Wino“ oder gar ins Griechische: „Elliniko Krasi“. Vöööllig anders. Angeblich kam eine 12-Minuten-Version zustande, die ihresgleichen suchte. Und nie wieder fand. Bockelmann war einer Inkarnation als Jim Morrison (westliche Lesart)) oder Wladimir Wissotzky (östliche Lesart) nahe, so die Mär. Was das einheimische Publikum dazu sagte ? In welchem Zustand man Bockelmann von der Bühne hievte ? Wie der weitere Abend verlief ? Dazu liegen uns keine belastbaren Informationen vor. Herr Bockelmann alias Udo Jürgens wurde jedenfalls nach diesem bemerkenswerten Happening nie wieder in Mariupol gesehen, nicht mal Gerüchte gibt es – und das will in diesem Metier, in dieser Gegend etwas heißen.

 

Auch DARUM ist Mariupol ein nervenzerfetzendes Pflaster für Velo-Piloten

 

 

 

 

 

KETTE BRINGT SÄGEN

Flüchtige Bekanntschaft mit einer Ich-AG im winterlichen Charkow (UA)

 

Die Leopardin, Wächterin über die Station Derschprom 

 

Charkow im Winter. Man friert, man eilt, man zieht den Kopf ein und den Schal enger. Jede Stube, welche nur irgend Wärme verspricht, ist von höchstem Interesse. Wechselstube, Weinstube, Nähstube, Dörrstube. Der vor Anstrengung und Überladung ächzende Bus, das sich geschäftig gebärdende Sammeltaxi und deren Passagiere, die schweinsgesichtig-resoluten Fachkräfte in der nahen Fleischbank und die muffigen Minderleister der Miliz an der Ecke – sie alle wollen ihre Schäfchen ins Trockene bzw. ins Warme bringen. Keiner verplempert einfach Zeit, indem er draußen irgendwo rumsteht. Keiner. Keiner ? Nun, ein einziger kocht da sein ganz eigenes Süppchen (das längst erkaltet sein müsste). Einer pfeift auf den gesellschaftlich-meteorologisch vorgegebenen Mainstream. Lautlos pfeift er, kein Wort sagt er, keine große Geste wirft er in den gefrorenen Nebel. Eine einsam und schwach glimmende Zigarette hängt, mit letzter Kraft der Schwerkraft trotzend in seinem rechten Mundwinkel. Aus seinen Nüstern dampft der warme Atem. Dieser Mann, so viel können wir auch von unserem jetzigen Platz bereits erkennen, dieser Mann trägt eine Mischung aus Arbeitsgewand und Zivilrobe sowie einen Arbeitshut, der entfernt einem alpinen Jägerhut ähnelt, abzüglich Gamsbart.

 

Wenn Neugier schädlich wird ..."Kein Durchgang"

 

Er steht an einer Hauswand, die nicht aussieht, als könnte sie  ihm auch nur einen Hauch Wärme spenden. Unser Mann dort ist von eher geringem Wuchs, lässt aber dennoch das Vorhandensein großer körperlicher Kräfte in seinem gedrungenen Körper erahnen. Seine Schultern jedenfalls sind bemerkenswert breit, seine Arme drahtig angespannt. Das müssen sie auch, denn unser Mann, nennen wir ihn Viktor, trägt einen Gegenstand in seinen Händen, der sehr schwer zu sein scheint. Man erkennt dies an Viktors unfreiwillig leicht nach vorn gebeugter Körperhaltung und den etwas angestrengt greifenden Armen. Was trägt, was hält er da ? Das ist von hier aus nicht zu erkennen. Außerdem huschen ständig Passagiere, Passanten, Lieferanten, Kunden, Schulkinder, Kindergärtnerinnen, Milchmädchen und andere durch unser Bild. Wir bleiben noch kurz in der Deckung und bemerken, dass Viktor sein schweres Utensil kurz zu ebener Erde abgesetzt hat, um sich eine neue Zigarette anstecken zu können.

 

Tja, wir bemerken bei dieser Gelegenheit, dass Viktor nicht mal Handschuhe trägt  - und dies bei sage und schreibe Minus 20 Grad ! So, er raucht und dampft jetzt auf zweierlei Art, einmal mittels Odem und einmal per Nikotin, dem Winter sei`s gedankt. Viktor nebelt und nebelt und behält wie zufällig seine nähere Umgebung adlerartig im Blick. Aha, die Passanten sind ihm also nicht egal ! Aber warum das ? Wartet er auf jemanden ? In seinem Habitus wirkt er nicht nur wie ein handwerklich geeichter Mann, sondern auch wie einer vom Dorfe, jedenfalls nicht hierher gehörig, nicht in diese unübersichtlich-chaotische Millionenstadt. Da ! Jetzt blickt intensiv einem Passanten nach, der gerade an ihm vorbeikam. Und da ! Jetzt bleibt einer tatsächlich vor Viktor stehen, er scheint mit unserem Landmann zu sprechen. Natürlich hören wir nicht was, aber wir wollen es jetzt wissen und wagen uns langsam näher, zwei ineinander eingehakte Damen mit riesigen Pelzungetümen am Kopfe als Deckung benützend.

 

Östliches Mobile aus Säugetieren und Tramway

 

Da ! Der Kontaktmann ist wieder weg. Und Viktor steht wieder exakt so da wie zuvor. Und raucht. Und dampft. Und schaut. Je näher wir kommen, desto klarer wird: dieser Viktor hat etwas zu verkaufen ! Einfach so, von der Strasse weg, ohne Rechnung, ohne Steuer, aber auch ohne Garantie, jedenfalls aber garantiert unbürokratisch. So, jetzt sind wir nah genug. Beiläufig-passantenhaftes Ranschlendern, Blick geradeaus und an Viktor vorbei. Die Augenwinkel aber in voller Bereitschaft. Erste Meldungen sprechen davon, dass es sich beim zu identifizierenden Objekt in Händen dieses Herrn um ein in der Großstadt eher selten anzutreffendes Gerät handelte: um eine Motorsäge. Finnischer Herkunft, neuwertig, aufgrund eines familiären Notfalls sehr günstig abzugeben. So vernahmen wir es im Vorbeigehen, als ein weiterer Interessent mit Viktor ins Gespräch gekommen war. Auch der kaufte das benzinbetriebene Werkzeug nicht. Vielleicht ein anderer …

 

Charkow, ein Wintermärchen. Die Wahrheit.

AMSEL, DROSSEL, FINK und STAR

Nekrolog auf eine für immer zerstörte Nachbarschaft (Meta Ost)

 

Im Osten ists gut rosten. Besonders im Jachthafen von Mariupol/UA

 

Aus Henitschesk am südwestlichen Asow-Ufer, in Hauchweite der Krim, ist nicht überliefert, dass dort jemals Amseln gelebt, überwintert oder in einer der hochsommerlichen Strandbars gezecht hätten. Folglich können sie auch keine dubiosen Aufträge fremder Mächte ausführen. Mariupol am anderen, nordöstlichen Ende der halbösterreichgroßen Bucht, ist da schon anders konfiguriert und begegnet dem nachbarlichen Pandämonium mit – teilweise gar schwimmfähigen, aber nicht manövrierfähigen – Hundertschaften von rostrot melierten Finken und bizarren, unfreiwillig auf Punk frisierten Staren. Rostrot ? Punk ? Richtig gelesen, denn die Mariupol umgürtenden riesigen Stahlkombinate ermöglichen aufgrund der von ihnen produzierten ökologischer Extremverhältnisse die wunderbarsten Feder-Mutationen innerhalb bloß einer Generation.

Ästhetisch ungewohnt, aber funktionell, vor allem in unsicheren Zeiten. Mit letzterem kann Asow seit einiger Zeit ganz bestimmt aufwarten. Die neue riesige Schwimmhecke des östlichen und südlichen Nachbarn heuchelt Sicherheit und verströmt Unsicherheit (für die anderen, die blau-gelben). Ein unsichtbarer riesiger Schlauch, der von der Hecke hängt, bläst langsam, aber beständig ermüdenden Nebel in die Westhälfte der Bucht von Asow. Und so sieht man sie nun alle ermatten, wie zeitlupende Wesen: die Stare im schifflosen Mariupol, die (noch) ihr gelb-schwarz-weißes Gefieder tragenden Finken im einst mondänen Berdjansk und die camouflierten Flugspinnen (hätte man sie doch rechtzeitig ausgebildet !) im immer schon nichtssagenden Primorsk.

Die früher so zahlreichen Schifflein, beladen mit Plunder aller Art aus aller Welt, sie haben längst ihre Segel gestrichen und ihre Container umdirigiert in andere Weltgegenden, wo es freundlichere Lotsen, weniger kontroll- und schiesswütige Küstenwachen und vor allem keine störende Schwimmhecke gibt.

Zahlreiche Zusendungen verlangten nach dem dazugehörigen Video ...

 

Henitschesk musste sich daran gewöhnen, dass täglich Schiffe und Boote mit militärisch-martialischen Hooligans an Bord seine Strände entlang marodieren, jeden zweiten Tag das Trinkwasser ausbleibt und an Land saufende, grölende „Männchen“ (nein, sie sind nicht grün) mit riesigem Tattoo-Adler auf der Brust feixend die Uferpromenade rauf und unter schlurfen, die Bier- (oder häufiger) Wodkaflasche in der Hand. Selten landen diese Flaschen im dazu befugten Mülleimer.

 

Schiffs-Flaute, Tourismus-Flaute und mäßig sympathische „neue“ Klientel. Das ist der Stoff, aus dem die Tourismus-Saison 2019 gemacht ist. Das sind die Brosamen, welche auch von den erstmals hier zu beobachtenden roten Drosseln aufgepickt werden. Langsam, aber bestimmt. Langsam, aber gründlich. Sagen wir die Wahrheit: ratzekahl. Und der Horizont ist nie mehr grün. Er ist rot und irgendwie: tot.

55 000 SCHRITTE IN PITER ***                                       шаги в Питере

Sankt Peterburg (RUS): Schmerznahe Eleganz für alle Sinne.

 

Kosmonauten 5.0

Aufgrund einer höchst seltenen Ballung höchst exotischer biophysikalischer Phänomene geschah es, daß zwei exterritoriale Vertreter eines zentraleuropäischen EU-Staates ihren Aufenthalt in der russländischen Kulturhauptstadt Sankt Peterburg recht unorthodox erlebten.

Dieser Umstand entfachte sich vor allem an der Tatsache, dass aus oben angedeuteten Gründen das normgemäße Sinneskostüm der westlichen Ostreisenden durcheinander geraten war. Mit der Folge, dass sie nun für jeden einzelnen Tag ihres Aufenthalts in Piter (kurz für St. Petersburg) nur eine Sinneswahrnehmung zur Verfügung hatten. Dies lief nicht synchron ab, sodass Reisender A am – sagen wir – Montag sehend unterwegs war, Reisender B jedoch hörend. Das mag verworren klingen und anfangs war es das auch, hatten sich A und B doch auf dieses geradezu fraktale Konstrukt erst einzustimmen. Und von Freiwilligkeit konnte ja nicht die Rede sein, woraus eine zumindest anfängliche Abwehrhaltung der beiden resultierte. Letztlich obsiegte die Einsicht, dass man sich – wie in diesen Breiten seit Alters her üblich – besser Energie spare und sich der Obrigkeit füge, zur Einreihung in das Kollektiv und zum Gedeih aller. Greifen wir aus den Sinneserlebnissen unserer Probanden einige praktische Erfahrungen heraus, ganz und gar willkürlich - und nennen wir A Anton und B Bertram:

 

Vasilostrovskyy Insel samt steinernem Wächter

 

A schlendert, nun, eher: taumelt den Nevsky Prospekt entlang. Nebst den ubiquitär und weltweit vorhandenen Einsatzfahrzeugen von Polizei und Rettung vernimmt er: Stimmengewirr in einem Cocktail von sehr viel Russisch, etwas Englisch und einem kunterbunten Rest aus anderen westeuropäischen und kaukasischen Sprachen. Blecherne und viel zu laute Nasalstimmen aus irgendwelchen (tragbaren ?) Lautsprechern preisen in Russisch und Englisch Schiffstouren, Restaurants und (für den Abend) Unterhaltungsetablissements an. Manchmal drei gleichzeitig, drei Lautsprecher. Darauf folgen ruhigere Gefilde mit manchmal interessantem Gastro-Geklapper  (Messer und Gabel treffen auf klirrende Teller) aus den am Gehsteig installierten Gastgärten. Später das tiefstimmige Tuckern eines Ausflugsschiffes, welches soeben den Prospekt unterquert, Wellengekräusel inklusive. Nebenbei ein auffällig schnell rasendes Fahrzeug, begleitet von mehreren ebenso schnell fahrenden Autos, die ihre unsympathischen Sirenen zur Freischaufelung einer Fahrspur zu benützen scheinen. Es muss sich bei der Limousine (wie klingt eine Limousine?) wohl um eine Art VIP-Person handeln, Bürgermeister, Gouverneur, Minister, oder gar er höchstpersönlich ? Dies lässt sich per Gehör natürlich nicht ermitteln.

Weiter. Das Stimmengewirr verdichtet sich, dutzende Stimmen werden zu hunderten oder noch mehr. Eine Vokalwolke, die den Verkehr übertönt. A lässt sich wohl oder übel vom Menschenstrom mitreißen, durch einen spürbaren Trichter in ein Gebäude, der Autoverkehrslärm blieb anscheinend im Sieb des Trichters hängen. Die dahin und dorthin hastenden Menschen samt ihrer begleitenden Geräuschfahne vermengen sich mit metallischen offizieller Natur: es sprechen die russländischen Staatsbahnen zu den Passagieren und deren Appendices. Ein weiterer Trichter scheint der Sicherheit zu dienen, ein weiteres Sieb. A darf passieren, er geht als „Behinderter“ (obwohl nicht als solcher gekennzeichnet) durch. Und Gepäck schleppt er keines mit. Die Abfahrtshalle, noch mehr metallische Informationen, noch mehr menschliche Hektik. Die Hektik der Abfahrenden dürfte eine andere sein als die der Abfahrenden, so mutmaßen Ohr und Hirn im Duett. Und schon wurde A vom Magnetismus der Abfahrenden aufgesogen, in einen Vorortezug (vermutlich) verfrachtet, von wohlmeinenden Mitbürgern auf einen rasch freigemachten Sitzplatz bugsiert. Sie hatten keine Ahnung, dass A eigentlich und auf keinen Fall in den südlichen Satellitenort Sapernij wollte. Wie er von dort wieder nach Piter zurückfand, ist niemandem begreiflich, auch nicht B. Es war jedenfalls erst am nächsten Tag ... (fade out).

 

 

B hat für den heute den Modus SEHEN only ausgefasst. Nachdem ihm dies gedämmert ist, tritt er seinen akustisch zu 100% wattierten Weg an. Und er beginnt rasch diesen Stummfilm in seltsamerweise krass überstrahlten Hellgrau-Weiß-Tönen zu genießen. „Ein Polar-Movie“, so murmelt er und grinst vor sich hin. Allerdings verführt ihn der Genuss-Modus zu einer gewissen Leichtsinnigkeit, die sich alsbald rächt und ihm einen rüden Zusammenstoß mit einem Bodyguard des Kommandanten der Nordmeerflotte einbringt. B hatte nicht auf das sich von links annähernde Objekt geachtet und unabsichtlich seinen Ellbogen im Gesicht des Bodyguards geparkt. Der nimmt das ziemlich krumm und hat schon zu einem passablen Faustschlag ausgeholt, als ihm im letzten Moment der geistesgegenwärtige Kommandant höchstselbst in den Arm fällt – irgendwie hatte er die Beeinträchtigung unseres Herrn B erfasst und richtig eingeordnet. Natürlich ist B zu einer umfassenden Entschuldigung bereit, womit sich der verkorkste Lokalkonflikt in Luft auflöst. Das Polar-Movie und sein Pastell in grau-weiß lässt B in einen entrückten Zustand gleiten, kein Wunder, sieht er doch die Eremitage, den Schlossplatz, die Kommandatur des Generalstabs, die Dvortsovoybrücke und Peter-Pauls-Festung in einer so gut wie kontrastlosen Creme verschwimmen.

 

Eine wohl einzigartige Perspektive auf die Metropole Zar Peters des Großen. Einzigartig und unterhaltsam, aber irgendwann ermüdend und schließlich enervierend. Gegen touristische Normalität bzw. zumindest eine ausgewogene Wahrnehmung mit fünf Sinnen, wie es sich im Allgemeinen ziemt – dagegen hätte Bertram mittlerweile nichts mehr einzuwenden. Gerne gäbe er jetzt seinen manieristisch-puristischen Modus an der Kassa zurück. Allein: man lässt ihn nicht, sondern nötigt ihn aus pädagogischen und vielleicht sogar generalpräventiven Gründen, auch die weiteren Glanzlichter Sankt Peterburgs als Stummfilm ohne moderne Features zu konsumieren: die Plätze der Künste, der Pioniere, des Rastrelli, des Lomonossov, die Admiralität, die Sankt Isaaks, die Erlöser- und die Katherinen-Kathedrale, den Vitebsker Bahnhof und die Metrostation Majakowskaja. Irgendwann döst er ein und er hat bis heute keine Ahnung wie er in sein Hotel zurückgekommen war. Psychedelische Drogen, in den Gutenacht-Cocktail gemixt ? Aber, aber Herr B ! Wie phantasielos und banal !

 

Piazze grande im hohen Norden

 

Für A ist von höherer Stelle nun der Modus FÜHLEN/TASTEN only bestimmt. Weit kommt er nicht, unser SPB-Test-Dummy. Schon an der zweiten Ecke, wenige hundert Meter vom Hotel entfernt läuft er gegen einen mannshohe, für gastronomische Abfälle ersonnenen Müllcontainer im XL-Format. Blutige Nase, angeknackster Daumen rechts und befremdete Blicke der Passanten. Die Superviser haben Mitgefühl und weisen per Emo-Laserstrahl (gibt’s nur bei den Russen) dem Delinquenten den reziproken Heimweg. Dort gestatten Sie ihm Labung, Verarztung und eine angemessene Pause.

 

 Diese Uhr überlebt uns gewiss noch alle !

 

B hatte bereits die halbe Nacht mit einer dumpfen Vorahnung dessen gekämpft, was nun als seine zweite Läuterung ansteht: Die RIECH-ETAPPE. Sein Versuch sich in einem Nebentrakt des Riesenhotels zu verkriechen war schnell aufgeflogen, seine Ambition mit der M3 nach Rybatskoe (Plagiatsverdacht ! Dieser Ort wurde bereits von einer anderen BP-Story gecovered) zu türmen, im Keime erstickt. Nun also schleicht B als touristischer Nasenbär am Ring der einheimischen Versuchsleiter durch die für ihn vorgesehenen Viertel der 4-Millionen-Metropole an der Newa. Richtig, diesen Fluss hieß man ihn entlang  zu wandern. Eine am Ende beachtliche Kilometerleistung, im Zuge derer es allerdings im Laufe der ersten Stunde wenig zu erschnüffeln gibt außer der beständig aus dem Westen, dem offenen Meere her wehenden Salzbrise, begleitet von Fischaromen und Möwenkot. Die überwachende Institution zeigt sich an diesem Tage überaus milde und übernimmt die allgemeine Navigation an des unfreiwilligen Wandersoldaten Statt. Dieser hat sich also um sehende und hörende Orientierung nicht zu kümmern, etwas das auch mit Kümmerung gänzlich erfolglos gewesen wäre. So saugt er also das nasse Duftpanorama durch seine geblähten Nasenflügel ein und fühlt eine intensive Erfrischung sich in Körper und Geist einstellen.

 

Nach zweistündiger Promenade kriecht jedoch plötzlich eine unerwartete Schwade in seine Nase, setzt sich dort fest und beginnt flugs seine Schleimhäute zu attackieren. B gerät in die Nähe eines Ohnmachtsanfalls und bekommt gerade noch mit, dass es sich um ein direkt vor ihm situiertes China-Restaurant handeln muss. Süß-sauer, chop-suey, was auch immer, jedenfalls zu aggressiv, zu übel und  - nicht zu ertragen. Denkt sich`s und verabschiedet sich nun tatsächlich in die himmelbettgleiche Ohnmacht. Hier greift die oberste Aufsicht (per Joy-Stick ?) sofort ein: der tapfere Beinahe-Märtyrer B wird per Teleportation (so vermutet man) heimgeholt, ins Hotel. Den chinesischen Berserkern am Kochtopf wird per Zugriff der föderalen Sicherheitskräfte a) die Lizenz entzogen (sie erwies sich ohnehin als gefälscht) b) der Manager entfernt im Sinne von inhaftiert c) das Personal noch am selben Tage nach Uiguristan expatriiert d) die russländische Staatsbürgerschaft von 4 Mitarbeitern und dem Manager entzogen, da durch Bestechung der lokalen Behörde unrechtmäßig erworben. Ein Paukenschlag zugunsten unseres kleinen Kreuzfahrers und zuungunsten der „schmarotzenden, faulen Reisfresser“, wie sich der föderale Einsatzleiter der Sonderpolizei ausdrückt. Etwas rüde, dieser Oberst, wie wir meinen.

 

 Natürlich Tarchun: gesund, gern getrunken und grün:

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SCHMECKEN tut wohl. Herr A unterwegs zur fünften und letzten Sinnesetappe. A hatte sich ja bekanntlich bei seiner Tour nicht gerade überanstrengt, aber doch einige Zeit benötigt, um seine Wunden zu lecken oder besser: wieder gehfähig und herzeigbar zu werden. Und so hält nun der Stadtsowjet für ihn zum Abschluss Versöhnliches bereit. Man geleitet ihn (ja, der Laserstrahl ist wieder im Einsatz) zu verschiedenen Vorzeigeadressen der Stadt, Orte, wo sozusagen ein best of der östlichen Kulinaria sich ein Stelldichein gibt. Man startet mit Kwass, an der Straße erworben und konsumiert, setzt fort mit dem giftgrünen Softdrink Tarchun, taucht Nase und vor allem Zunge der Testperson in russisches Bier, Wodka, Cognac. Man vergisst nicht, A zwischen den Trinkstationen mit fester Nahrung bekannt zu machen: Georgisch, Armenisch, Tatarisch, Ukrainisch und natürlich Russisch, sogar Tschetschenisch sind die Herkunftsadressen der von A mit Leidenschaft verzehrten Gerichte. All dies führt, einer alttestamentarischen (Völlerei) wie irdischen (Maßlosigkeit) Logik folgend irgendwann zu einem Stillstand des vegetativen Nervensystems bei A. Er sieht es kommen und versucht nach Kräften a) das Gesicht zu wahren b) seine physische Beweglichkeit wieder zu erlangen.

 

Dies gelang mehr schlecht als recht. Von höherer Stelle zeigt man kulantest Einsehen und verleiht A kurzerhand alle seine fünf Sinne wieder. So gelingt es ihm, mit letzter Kraft und gewaltigem Rumoren in seinen Innereien, den Heimweg in seine Bleibe, zur Wiedervereinigung mit dem ebenfalls, wenn auch durch andere Fährnisse geräderten B anzutreten. In den Nachrichten erscheint bald darauf eine Eilt-Meldung, welche von einem Unglück im Nordwesten der Stadt spricht, Feuerwehr und Katastrophenschutz seien bereits auf dem Wege, Details seien aber noch unbekannt. Man befürchte eine Explosion, deren und Ursache Hintergrund erst ermittelt werden müsse. Das Hotel unserer Dummy-Touristen befindet sich: im Nordwesten …

 

 

 

 

 

Silvester in Tschertanowo ***                             Новый год в ЧертановE

Sterne schauen, Augen schauen, dem DJ trauen - im Tanzobservatorium (Moskau, RUS).

 

Das gefrorene Lächeln des Schneemanns. 

 

 

Aeroflot. Moskau-Scheremetjewo. Schnee, Eis, grimmige Minusgrade und eine zu kleine Pelzmütze. Reibet er also minütlich an den Ohren (den eigenen !) und kaufe er heißen Tee, halbstündlich. Das Hotel zackt gen düsteren Himmel. Hotel Ukraina, einer der sieben Finger Stalins, der sozialistische Klassizismus lässt grüßen. Benutzer-un-freundliche Türen, düstere Gestalten in Anzug und Krawatte und mit Walkie-Talkie (wegen der Sicherheit !). Hier fehlt doch was ? Entschuldigen Sie bitte, wo ist hier die Rezeption (als hätten nur ganz besondere und wenige Hotels eine Rezeption) ? Eine Pranke im Anzug weist ausdrucklos nach links hinten. Tatsächlich, das was zunächst wie ein zu klein geratenes Postamt wirkt, das entpuppt sich bei näherer Beschnupperung als: Rezeption ! Solche Dinge muss man sich hier noch so richtig erarbeiten. Pass, Formular, Schlüssel, Aviso. Entschuldigen Sie bitte, wo wär denn hier der Lift ? Diesmal weist die Sicherheits-Pranke nach rechts vorne. Pling ! Da ist er ja schon. Die etwa halbstündige Fahrt (gefühlt) endet im 26. Stock, properes Entree, wenngleich: düster, wirklich sehr düster. Düster, die heimliche Leitfarbe der verblichenen Sowjetunion. In ähnlichem Ductus – das Zimmer. Dennoch versehen mit den Insignien eines Dreistern-Plus-Hotels: gediegen-sauberes Bad, einladendes Bett, breathtaking Panorama über die Stadt, die leider bereits in der Dunkelheit verglimmt.

 

Dialoge übers Angeln, der Strassenfeger in ganz RUS.

 

Einen Stock höher lockt die Bar, dekoriert in Schattierungen zwischen mondän, weltläufig, düster und grimmig. Auch dort grüßt (maximal ein angedeutetes Kopfnicken und auch das nur für Stammgäste, vulgo: Landsleute) am Eingang ein auffällig introvertierter Mensch (die Pranke diesmal unsichtbar), der gänzlich ohne Extravaganzen wie Mimik und Gestik auszukommen scheint. Die Bar: wie aus einem sozialistisch-klassizistischem Guss, nierenförmig geschwungen, polierter Stein, Edelholz, Messing, Glas. Geräuschlos erscheint: der Garcon, der Barmann. Leider spricht er auch Englisch. Das gilt es ihm auszutreiben. Nach der dritten Bestellung ist dies vollzogen, er redet und hört endlich Russisch. Na also ! Das Getränk der Stunde ? Cognac aus dem sowjetischen Süden, zuerst Georgien, dann Armenien, dann Krim. Kumpane an der Bar ? Eher schweigende Zecher, gezeichnet von den Unbilden der westlichen Exportwirtschaft. Ein deutscher Projektmanager für Maschinenbau, ein französischer Staubsaugervertreter (tatsächlich!) und (nanu ?) ein kanadischer Musikscout. Letzterer ein erfreulicher und unterhaltsamer Zeitgenosse, mit dem man gerne einen über den Durst trinkt. Der Garcon tut jetzt so, als hätte er nie in seinem Leben ein Wort Englisch gesprochen, interessante Volte dieses Abends. Er langweilt sich und hört uns zu. Urban und Roger (der Kanadier) erlauben ihm das unter der Voraussetzung, dass der Rest Flasche Koktebel aufs Haus geht. Er, der Offiziant (russ. für Kellner) löscht alle Lichter bis auf eins (das über unser beider Köpfe) und lehnt sich entspannt auf seine Seite der Bar.

 

Unser Herr Supervisor, der uns den Cognac spendiert – er lebe hoch, so rufen die beiden Barhelden. Der Kanadier erweist sich nicht nur als buntscheckiger Gesprächspartner, er hat auch ein paar hochinteressante Tipps für das Moskauer Nightlife auf Lager. Nein, keine Karaoke-Bars, keine Casinos, keine Striplokale, keine Massagesalons. Nein, er sagteeinfach nur: Anja ! Und, da Urban wohl zu dümmlich geglotzt hat, noch einmal: Anja ! Anja ? Welche Anja ? Etwa diese Anja ? Natürlich nicht diese. Hier ist ihre Mobilnummer, sag ihr aber nicht, dass du sie von mir hast. Sondern ? – von Ljocha, raunt der Scout vertraulich. Aha, Ljocha. +7-55-567 886 22, das ist Anja. Es ist sehr früh geworden, zu Sommerszeiten könnten wir jetzt schon die ersten Sonnenstrahlen erblicken. Monsieur le garcon ist eingeschlafen, die IG Österreich-Kanada steckt die ungefähre Zeche plus Goodwill-Pauschale in seine Rocktasche und schreibt ihm eine Glückwunschkarte – wir gratulieren Ihnen zu Kunden, die ihre Müdigkeit NICHT ausgenützt haben. Gute Nacht, Kanada + Österreich.

Ein binationaler, fester Händedruck, Kanada schlurft, Österreich wankt in Richtung der jeweiligen Kemenate.

 

 Prof. Lomonossow und seine Universität. 

 

 

Was ? Ja ? Wer ? Wo ? WTF ? Ach, es ist das Zimmertelefon ! Oh my god, die Vermittlung im Stakkato, irgendwer will Urban sprechen. Wer ? Klack. Klick. Hallo ? Eine Frauenstimme.

Hallo ? Ist das Urban ?

Ähm, ja, wer sind Sie ?

Ich bin Anja (DIE Anja!).

Ach, ja, guten Morgen, äh, guten Tag. Woher wissen Sie …

Jean-Luq hat mir gesagt (Störgeräusche, russische Männerstimmen – wahrscheinlich die, die auch im Telefonverkehr für Sicherheit sorgen).

Hallo ?

Ja, ich bin hier, die Leitung ist schlecht. Nun ja Urban, haben Sie zu Silvester schon etwas vor ?

Ich ? Nein.

Gut, dann kommen Sie übermorgen so gegen 21.00 zur Metrostation NNNN. Geht das ?

Ja, da geht, ich werde dort sein. 

Bis dann.

(Klack).

 

Was geschah bis dahin ? Telegramm: In Ismailowo zwischen gespenstischen Olympia-Hotels aus 1980 eine RICHTIGE Pelzhaube erstanden STOP Zufällig in eine tiefgefrorene Wartschlange geraten, sie endete im Lenin-Mausoleum (düster + grimmig, hier sind sie wieder) STOP Mehrere Probefahrten mit der pompös-martialischen (schön ist sie auch !) Moskauer Metro STOP Die Hotelbar noch mal aufgesucht, ein anderer Garcon, andere Gäste, kurz: nicht so wie zwei Tage zuvor STOP Am Roten Platz von einer ganzen Armada in Angriffsformation heranrasender Schneepflüge beinahe in Grund und Boden gewalzt STOP Im russischen TV eine sechsstündige Sendung über und für Fischer/Angler gesehen – und daraus nicht schlau geworden, seltsamer Fimmel das STOP.

 

Erholungs-Plattform irgendwo im Turm des Hotel Ukraina.

 

Silvestertag ! Abenteuerlich lange Fahrt mit der Metro bis zur Station Juschnaja. Oberirdisch schneidet Väterchen Frost Scheiben aus der Luft und verkauft sie als polare Leckerei an Kinder. Es dröhnt der Warschawskoje Prospekt vor sich hin. Anja verspätet sich. Fünf-zehn-zwanzig-dreißig-fünfzig Minuten. Endlich schwebt sie heran. Ein so umwerfender Auftritt, dass einem die Spucke wegbleibt – und der Ärger über die für westliche Maßstäbe gigantische Verspätung. Und sie weiß das. Vorstellung, Smalltalk im Gehen, gar nicht so small. Nach einer halben Stunde Marsch haben die beiden ihre Biografien im Ultra-Zeitraffer ausgetauscht, inklusive der Frage, was Urban hier macht. Das Gebein taut allmählich wieder auf. Links-rechts-links-links und schon sind sie da. Das-ist-ja … Richtig, ein Observatorium. Ein ehemaliges Observatorium, so Anja. Und schon sind sie drin. Zu ebener Erde: ein „Beisl“ mit alternativ tickenden Menschen verschiedensten Alters. Eine Holztreppe nach oben. Aber die Schuhe müssen runter, oben ist Socken only Gebot. Anjas Anweisungen sind Befehl. Schuhlos und dadurch für den Moment etwas entmannt klimmt Urban sich nach oben, vor ihm sein Local Guide - Anja.

 

Und hier tut sich eine Art Katakombe, nein Kathedrale, nein Tempel, na gut: Tanztempel auf. Aber in kreisrunder Form, die Observatorien in aller Welt eigen ist. Und es geht hier an diesem Silvesterabend tatsächlich um Tanz. In zwei Dritteln des Tempels sind  - nun, sagen wir: Logen, eher aber: Separees angeordnet. Mit Matratzen und Decken. Das wirft Fragen auf. Die Urban aber nicht stellt. Es geht um anderes. Zum Beispiel um den soeben eintreffenden DJ, einen angenehm normal wirkenden Zweimetermann Mitte Dreißig, im Zivilberuf möglicherweise Dispatcher bei einem Taxiunternehmen, Kalkulant bei einem Logistiker oder IT-Mensch für eine Sushi-Kette. Das war nicht zu erfahren, denn auch darum ging es nicht. Sondern: um den bemerkenswerten Auflege-Ansatz des Musikmeisters. Höchst animierende Abfolgen von westlichen Dancefloor-Hits aus drei Jahrzenten (klingt furchtbar, war es aber nicht, er konnte das !), östliche Pop- und Rockhymnen, russischer Reggae, ukrainischer Ethno, belarussischer Rap ….

 

Das Publikum: maximal divers, alles außer Börsen-Youngsters. Gemeinsamer Nenner: sie lieben gute, wirklich gute Musik und sie tanzen unübersehbar gern. Anja hat die Augen geschlossen, sie scheint auf den Wolken der Musik zu schweben, grazile Bewegungen, versonnene Gestik. Und Urban geht’s ja ganz ähnlich. Endlich mal eine Fete, wo alle tanzen und es keine Zuschauer gibt – außer vielleicht die, die sich gerade einen Drink an der Mini-Bar (wirklich winzig, fast eine Bar-to-go) genehmigen.

 

 

Fernsehen bildet ...

 

Meister DJ schafft es, einen Bogen vom russischen Chanson bis zu Pink Floyd zu spannen, ohne dass dies im Geringsten unangemessen wirkt. Jetzt tanzt die ganze Partie – etwa 70 Personen – einen schrägen Kreistanz, irgendwie improvisiert und doch in einem beindruckend telepathischen Gleichklang. Die Zeit gleitet unhörbar dahin und keiner achtet darauf. Nicht einmal Silvester (Mitternacht) durchbricht diesen Flow. Das wird erst nachgeholt, als irgendeiner mal zufällig auf die Uhr blickt und dann vermeldet: Leute, es ist schon 00.14 ! Der Minibar-Kellner hat schon eine ganze Batterie an Schampanskoje-Flaschen bereit gemacht. Es knallen die Korken, es perlt und fließt – in die Gläser, in die Kehlen, ins Gemüt. Auf das neue Jahr, möge es für uns alle ein gutes werden ! Und Gesundheit ! Und Glück ! Und Liebe ! Große Umarmungswelle, auch mit Wildfremden, so wie Urban einer ist. Nein, kein Esoterik-Zirkel, keine Sekte, einfach nette good will people. Man erfährt, dass der DJ Jewgeniy heißt und im Brotberuf Dispatcher bei den städtischen Buslinien ist (wir waren also nahe dran). Er freut sich über ausländischen Zuspruch und begibt sich wieder zu seinen Decks. Weiter geht die Sause, kaum einer berührt noch den Boden und es würde nicht wundern, wenn das gesamte Observatorium allmählich vom festen in den gasförmigen Zustand übergehen würde. Dazu kommt  es nicht, aber es war nah dran, da ist sich Urban sicher.

 

Es ist spät, der stundenlange Tanz und die zahlreichen Minibar-Konsumationen fordern ihren Tribut, sprich: Urban ist müde. Ach ja, da gibt es ja diese Separees ! Und wo ist eigentlich Anja ? Schon länger nicht gesehen. Separee 1: besetzt, 2, 3, 4, 5 auch, Nummer 6: frei, nein, fast frei. Wer ist das ? Wahrscheinlich Anja. Sie schläft anscheinend. Urban nimmt sich eine Decke und tastet nach der zweiten Matratze. Da ist sie. Und da ist noch was. Eine – Hand ! Und diese schläft nicht, sie bewegt sich – auf ihn zu ! Gebannt beobachtet er, eher: fühlt er, wie sich die - noch anonyme – Hand auf ihn zubewegt, ihn erreicht und berührt und – nicht mehr weggeht. Darum muss man sich kümmern, natürlich. Draußen werkt Jewgeniy wie ein Besessener und erschafft soeben einen Hybrid aus Abba und Serjoga. Teufelskerl !

 

Drinnen steigt die gefühlte Raumtemperatur (Urban`s), obwohl er aus dem Dunklen eine Stimme, vermutlich Anjas Stimme, flüstern hört: mir ist so kalt, so kalt ! Kalt ? Na, dann komm. Und sie kommt, geschwind.

 

Jewgenij hat mittlerweile einen etwas Entrücktes im Antlitze, er legt nun bereits die siebente Stunde auf, das mit der Metamorphose in Richtung gasförmig könnte auch für ihn gelten, vor allem für ihn. Die Reihen haben sich mittlerweile gelichtet, die Separees sind gut besucht und manche haben bereits den Nachhauseweg angetreten.

 

Urban ist bzw. sie sind: eingeschlafen. Nicht für lange, denn: es ist wirklich sehr kalt, draußen hat es Minus 26 Grad. Drinnnen vielleicht ein paar Grad Plus. Sodass er nicht anders kann, als wach zu werden. Und sich umzusehen, staunend über das eingetretene, kalte Vakuum im Tanztempel.

 

 

Die Kinderlein kommen Matrioschki schauen. 

 

 

Jewgenij ist in der Zwischenzeit in den Himmel aufgefahren. Jedenfalls legt er nicht mehr auf und die DJ-Decks samt Kabelzeugs sind ratzekahl demontiert. Keiner tanzt mehr, die Minibar ist geschlossen, hörbar nur das Summen der Getränkevitrine der Minibar – und ein fernes, leises Brausen des Autoverkehrs an irgendeinem dieser Prospekte.

 

Etwas wacher nun blickt Urban um sich und bemerkt – das ist nicht Anja. Wo auch immer sie hin verschwand und wann und warum*. Und wer auch immer diese liebliche Matratzenfrau zu seiner Rechten ist.

 

*nicht umsonst zirkuliert (aber eher im Westen) der Spruch: er/sie hat „den Russen“ gemacht. Das bedeutet, diese Person hat sich ohne Ankündigung des Abschieds einfach so von der Gruppe entfernt.

 

Wie gings weiter (eine der drei Varianten ist der Realitätam nächsten):

 

  1. Die Matratzenfrau ist Tatjana, sie Studentin der Medizin im letzten Semester. Urban und Tatjana besuchen miteinander ein Frühcafe, lernen sich besser kennen und sind seit nunmehr 8 Jahren Brieffreunde

  2. Die Matratzenfrau ist Nina, Mutter von 2 Kindern im Kindergartenalter, geschieden. Urban verlängert sein Visum und fährt mit Nina und den Kindern in ein Dorf nördlich von Moskau, wo Ninas Eltern wohnen. Sergej, der Vater, findet Urban sympathisch und macht ihm ein überaus großzügiges Angebot

  3. Die Matratzenfrau ist Julia. Sie hat Urban schon den ganzen Abend beobachtet und eine quasi eine Honigfalle aufgestellt, in die Urban selbstredend getappt ist. In der Helle des angebrochenen Tages sind die beiden so sehr voneinander begeistert, dass Urban ihr einen Heiratsantrag macht. Sie sagt ja, erwirkt über ihren Vater (ein höheres Tier im Innenministerium) ein Sondervisum und fliegt samt ihrem Urban nach Österreich. Er verpulvert in drei Wochen seine gesamten Ersparnisse und bringt Julia dann zum Flughafen. Geheiratet haben sie nicht. Julia ist nicht böse, sondern dankbar für die schönsten drei Wochen in ihrem Leben …

  4. Keine dieser Varianten

  

Welche Variante hat also tatsächlich stattgefunden ? Schicken Sie uns Ihre Antwort. Zu gewinnen gibt es nichts, außer dass Sie sodann im exklusiven Besitz der mutmasslichen Wahrheit sind !

 

 

ein seehund aus palau *** печать с палау

Ein in die Irre geratener Kutter - macht Vilkove (UA) kirre

 

 Hochseekähne an der Leine.

 

Ein sich nichts denkender also völlig harmloser Badegast an den Gestaden der Donau an Stromkilometer 20, ukrainische Flußseite. Strahlend schönes Wetter, gleißendes Wasser, platschende Welse, Karpfen, Hechte. Einem beherzten Sprung ins kühle danubische Nass steht also nichts im Wege. So springt er also, taucht auf und freut sich des gegen den Strom Schwimmens. Wenn schon nicht im alltäglichen Leben, dann wenigstens hier … Solche Gedanken könnte man ihm zuschreiben. Aber warum sollten wir jetzt gerade in diese Karten blicken, die in Wirklichkeit eher einer Glaskugel entsprechen.

 

Nennen wir ihn übrigens Shenya. Die Donauströmung ist nicht von schlechten Eltern, Shenya hat mächtig zu tun, um nicht abgetrieben zu werden. Er betrachtet diese Anstrengung als sein Fitnessgerät, das er jeden Tag benützt. Seine tägliche Sport-Viertelstunde. So auch heute. Nach getaner Ertüchtigung erklimmt er den flach am Wasser liegenden Holzsteg und lässt sich in der Sonne trocknen. Ringsum – wie immer – zirpt, summt, brummt und platscht es, die Fauna leistet maximalen Einsatz bei ebensolchem Output. Natürlich kennt Shenya diesen lokalen Soundtrack, aber es ist nicht so, dass er ihn nicht mehr hören würde. Im Gegenteil, er ist täglich ein aufmerksamer Zuhörer, einem treuen Radio-Fan gleich.

 

Hier kommt der südländische Trespasser. 

 

Wie immer späht Shenya auf die Donau hinaus und lässt seinen Blick stromaufwärts wandern, dann stromabwärts Richtung Delta. Erfahrungsgemäß tut sich am vis-a-vis Ufer, das rumänisches Territorium verkörpert nichts, es ist unbesiedelt und die Wasservögel hüben wie drüben haben sich noch nie um eine sowjetische oder neuerdings eben um eine EU-Außengrenze geschert. Abseits der Tierwelt ist die untere Donau also sehr reizarm und kaum für Unterhaltungssüchtige zu empfehlen. Zu letzteren gehört Shenya nicht. Dennoch ist er dankbar, wenn so wie heute am südöstlichen Horizont des Stroms ein unnatürlicher Schatten auftaucht. Stromaufwärts scheint ein Schiff zu keuchen, es hält sich auffällig nah an der rumänischen Seite. Shenya steckt sich eine Zigarette an, hockt sich auf den Steg und lässt die Beine im Wasser baumeln. Es dauert, bis man erkennen kann, dass es sich mindestens um einen Kutter handelt.

 

Es glimmt bereits die zweite Zigarette zwischen Shenyas Lippen, die dritte, erst bei der vierten stellt sich heraus, dass es sich um ein nicht gerade riesiges, aber doch: Hochseeschiff handelt. Mittlerweile hält es auf die Strommitte zu, den Bug zum ukrainischen Ufer drehend. Die fünfte Zigarette ist im Einsatz, als Shenya ein mit voller Kraft stromaufwärts drängendes rotes Patrouillenboot erkennt. Es holt den Hochseekahn ein, dieser dreht bei und wirft Anker. Man bzw. Shenya registriert den Namen des obskuren Kutters: Seal Sands, unterwegs unter der Flagge von Palau. Palau ? Ist das nicht diese winzige Südseeinsel ? So ist es und die Frage berechtigt, was dieser Dampfer hier, an dieser äußersten Peripherie Europas zu suchen hat. Wohl weder Seehunde (seals ), noch Sand. Moment ! Die Seal Sands hat was deutlich sichtbar an Bord ? Einen mächtigen Bagger mit Ausleger ! Und Sand, Schwemmsand gibt es im ukrainischen Donaudelta mehr als genug, für wenig oder gar kein Geld. Somit könnte es sich also rechnen, dass ein so bescheiden dimensioniertes Hochseeschiff wie die Seal Sands eine mehrmonatige Reise rund um die Erde auf sich nimmt, um hier die Donau anzubaggern und dann diese sandige Beute ins heimatliche Palau zu schippern. Auf dass man dort Dämme, Deiche oder auch nur Sandhaufen für Kinder damit errichte. Klimawandel lässt grüßen.

 

 

Blick in den Sonnenuntergang und fast - bis zum Gänsehäufel 

 

Shenya erscheint dies zu banal, er spintisiert lieber von Spionage für die Rumänen, Schmuggel von HD-Fernsehern, Verwanzung des Donaugrundes durch die Russen – dann hören sie sogar mit, wie sich Hecht und Barsch im Röhricht gute Nacht sagen, so knurrt er. Rege Fantasie war seit Geburt ein Asset bei Shenya und so hält er sich auch jetzt nicht zurück. Mit entschlossener Miene wirft er sein Smartfone an und alarmiert in theatralisch-hysterischem Ton die Küstenwache, die Polizei, den Gouverneur, das Verteidigungsministerium und die regionalen Freiwilligenverbände des Bataillons Azov. Letztere waren auch prompt die ersten am vermeintlichen Ort der Provokation. Und letztere waren es auch, die einen mittleren Grenzzwischenfall mit Rumänien auslösten. Mit Kanonen auf – nicht einmal echte – Spatzen, das geht selten gut. Shenya hatte jedenfalls für eineinhalb Tage seine Unterhaltung, erste Reihe fußfrei. Mit einiger Verzögerung kam man ihm auf die Schliche und verurteilte ihn letztlich per Diversion zu einem 2-wöchigen Arbeitsaufenthalt auf dem ukrainischen Cargoschiff „Lesya Ukrainka“ (Heimathafen Izmail). Dort schuftete er dann verdrossen als Deckschrubber, Kartoffelschäler, Zwiebelschneider und Jausenholer. Und – hat es ihm etwa geschadet ?

taxist oder terrorist *** Таксист или террорист ?

Bisweilen zieht man eine Niete - dieses Mal in St. Petersburg (RUS)

 

 

 

Was erwartet der gemeine Fahrgast von einer Taxifahrt ? Ein funktionierendes Gefährt, einen geräuschlosen oder eben unterhaltsamen Taxisten, der seinerseits selbstredend über entsprechende Fahr- und Ortskenntnisse verfügt und über Grundkenntnisse im Umgang mit uns, den Fahrgästen. Ach ja und die Preisgestaltung sollte transparent und dem Auftrag angemessen sein. Nice to have`s ? Ein besonders hilfsbereiter, besonders ortskundiger (ein verkappter Touristenguide), besonders umsichtiger (proaktive=sanfte Brems- und Beschleunigungsmanöver) Taxist mit einem duldsamen Auto auf seine Verkehrsgenossen, die anderen Automobilisten da draußen. Das erwarten wir, das erhoffen wir, auch im sogenannten europäischen Osten. Allein, es kann auch anders kommen – unter einem Dutzend Treffern ist auch mal eine Niete. Und so trug es sich jüngst in Petersburg zu. Ein eilfertiger Kellner bestellt seinen aufbrechenden Gästen ein Taxi, online, kassiert die Gebühr gleich selbst und kümmert sich um das Auffinden des im achtspurigen Gewühls des Boulevards verschütteten Taxis. Da ist er ! Der silberne Wolga, das richtige Kennzeichen. Einsteigen, Abfahrt, die Dinge nehmen ihren Lauf. Der Taxist schweigt und tippt auf seinem Navi herum. Nachdem er dies zum gefühlt hundertsten Male tut, sagt und zeigt man ihm die Adresse nochmals – er bestätigt und fährt und: tippt auf seinem Navi herum. Nun gut, ein vielleicht schräger Zeitvertreib. Prospekt, Brücke, Prospekt, Brücke.

 

 

 

Irgendwann erscheint den Fahrgästen etwas nicht koscher: es ist die ihnen völlig unbekannte Umgebung. Die dezente Frage, ob er noch auf Kurs sei, beantwortet der Delinquent am Steuer mit einem indifferenten Nuscheln. Allein: seine Unsicherheit wird immer manifester. Irgendwann stoppt er stumm. Wo ist unser Hotel ? Er: Da ! Fahrgast: Ich sehe kein Hotel. Er: da muss irgendwo eines sein. Irgendwo, was bedeutet das ? Er fährt weiter, nuschelt nach einer Minute: das kostet extra ! Wie bitte ? Ein Wortgefecht entwickelt sich, erschwert durch die völlige Sachunkenntnis des sogenannten Taxlers und durch dessen unfassbar schlechte Russischkenntnisse, let alone irgend eine andere Sprache – außer Tschetschenisch. Warum wir das wissen ? Nun, man kennt den grobschlächtigen Akzent aus einschlägigen russischen Spielfilmen. Brat, Kavkasky Plennik, Wojna, Blokpost etc., sie hörten Radio Nähkästchen ...

 

Wie auch immer, das Wortgefecht droht in ein handfestes zu kippen, da der kaukasische Sonntagsfahrer seine Ehre (ach ja !) angegriffen wähnt, nachdem seine tatsächlich unironisch gemeinte Frage, ob etwa ER an dieser Irrfahrt schuld sei, mit einem wie aus der Pistole geschossenen Ja ! beantwortet worden war. Im Zuge des Gezeters war er immerhin so von der Rolle, dass er im dritten Anlauf dem „Wunsch“ der Passagiere nach einem gefälligst sofortigen Anhalten Folge leistete. Abgang, äh –fahrt mit quietschenden Reifen …

 

 

Es stellte sich heraus, dass unser Dummy Driver um 180 Grad falsch unterwegs gewesen war, einen Prospekt mit einem anderen verwechselt hatte und die armen Touristen nächtens zwanzig Kilometer von ihrem Hotel entfernt hatte und nicht hin transportiert. Das Navi nicht beherrschen, die Geheimnisse eines papierenen Stadtplans nicht durchschauen und die Stadtsilhouetten aus dem Auto nicht deuten können, tja …

 

So bedurfte es hilfsbereiter Einheimischer und eines verständigen (geografisch, sprachlich, automobilistisch) Ersatz-Taxisten, um die versprengten Westler in ihre Herberge zu bugsieren. Übrigens: diese zweite Taxifahrt dauerte doppelt so lange wie die erste und nicht etwa wegen eines langsam fahrenden Zweittaxlers, sondern – wegen der Sache mit den 180 Grad. It`s the Stadtplan, stupid !

 

moskito.vilkove.ua (ROUGH EDIT)

Lost & Found im Donaudelta (UA, MD, RO)

Und dann nur noch das schwarze, schwarze Meer ... 

 

(1) FOUND: Muscheln, Strandgut, ein Pelikanschnabel, ein halber 10-Hryvnya-Schein, Brackwasseraroma, ein ausgebleichter und aufgedunsener „russischer“ Werksausweis (in Ewpatorija, Krim ?), ein Kronkorken mit Resten der rumänischen Aufschrift Silva (Wald, also ein Waldbier ?).

 

LOST: ein ganzer 10-Hryvnya-Schein, eine Sandale, Atembeschwerden, ein Kassazettel des örtlichen Produkty-Distributörs. Noble binnenländische Blässe. Deltamentale Unschuld.

  

(2) Das Basislager: Dunajskaja Usadba, das Herrenhaus an der Donau.

Einen halben Meter neben dem Esstisch im hölzernen Wintergarten macht es im 5-Minuten-Takt Platsch, ein Frosch, eine Kröte, ein Fisch unbekannter Gattung (Wels, Hecht, Karpfen ?). Inspirierend für vielerlei Arten an Tätigkeit. Befände man sich in den Tropen, so läge das Fürchten als natürliche Reaktion auf Unbekanntes (und potenziell Gefährliches) nahe. Moskitos haben soeben die Nachtschicht begonnen, schon am Tage sind sie nicht gerade faul, aber jetzt wollen sie`s wissen. Mit preußischer Disziplin und mongolischer Aggressivität tun sie ihre Arbeit. Cool und abgeklärt, sie wissen: wir sind die Mehrheit !

Die Donau: nur einen Steinwurf bzw. einen Spaziergang über drei Holzbrücken entfernt. Ab und zu ein stromab- oder aufwärts pflügendes Boot oder Schiff. Ein Bass brummender Junikäfer hat die Orientierung verloren, hat vergessen, die Landeklappen auszufahren und ist ergo ungespitzt ins hiesige Moskitonetz gestürzt. Wie er überhaupt hier reinkam bleibt ein Rätsel. Bakschisch, eigentlich hier: Vsjatka - möglicherweise.

 

 

Rush-Hour am Vilkover Stadtkanal.

 

Während sich im sommerlichen Wien  - 1934 Kilometer flussaufwärts - die Temperatur der Donau schnell der Badewanne angenähert hat, ist die hier sehr erfrischend, die starke Strömung ein ernstzunehmendes Fitnessgerät für Schwimmer und Taucher. Vilkove, das Klein-Venedig an der Donau, naja, Seemannsgarn ist hier im Spiel. Sehr-Klein-Venedig, treffender. Oder: Venedig für sehr Arme. Die vielzitierten Kanäle Vilkoves fließen übrigens aus der Donau ins Ortsinnere und nicht umgekehrt. Bemerkenswert die Abwesenheit von Böschungen. Auch der Zugang zur Donau verhält sich im wahrsten Sinne niederschwelligst, sogar für Rollstuhlfahrer, gewissermaßen barrierefrei.

 

Ostwanderer kommst du nach Vilkove, dann heuere an an Bord eines flotten Bootes, das dich schnurstracks nach Osten bringe, stromabwärts den Kilija-Arm der Donau entlang. Werde Zeuge der letzten Kilometer dieses Stroms, der halb Europa durchquert mit dem Ziel, sich ins Schwarze Meer zu ergießen. Lass dich mitreißen von diesem Sog, vorbei an Seitenarmen mit seltsamen Namen wie Bystre („schnell“) und Alt-Istanbul. Inmitten der Gischt, unter der sengenden lipowanischen* Sonne siehst du die Ufer zurücktreten, die Unendlichkeit des Schwarzen Meeres heraufziehen und eine übermannsgroße Stele auf der letzten Sandbank gleißen: Kilometer Null. Vor dem dort errichteten Monument „0 km“ haben sogar die Moskitos Respekt und ziehen sich für einen Moment der Andacht zurück.

 

Nach gebührlicher Würdigung dieser geografisch-hydrologischen Sensation – Spaziergang am erstaunlich plastikfreien Strand, Windinhalation – das erneute Boarding und die entschlossene Fahrt Richtung Wien, aber nur 15 Kilometer bis in die Dschungel-Usadba in Vilkove – selbstverständlich mit 27 Knoten !

 

 

*Lipowaner: altgläubige orthodoxe Christen, an der Donaumündung im Gebiet der Ukraine, Rumäniens und Moldawiens. Sie sprechen eine alte Version der russischen Sprache.

 

 

Iwan und sein Aussenborder: Symbiose Süd. 

 

(3) Was noch alles verloren und gefunden wurde:

  

LOST: Inna`s Nagelfeile (immer schleppt sie alles Zeug mit, sogar bei einer Safari zu Wasser !).

Fjodor`s Taschenmesser (Wozu er das mit hatte ? Der Bootsführer ist doch der Handwerker !)

Iwan`s Sonnenhut (Der Hund im Pfahlbaudorf am Bystre-Arm war`s. Bei den dortigen archaischen Verhältnissen – fast verschleierte Frauen, dauerdeichgrabende Männer – klar, dass ihn, den Hund, eine Tracht Prügel erwartet

15 Liter Sprit, die Außenbordmotor Arkadij 2000 gierig inhaliert hat („Na, was müsst ihr auch mit Highspeed unterwegs sein, da kriegt er (Arkadij) eben mächtig Durst“ !)

Inna`s und Fjodor`s Unschuld betreffs der Berührung von Flussdeltas. Ja, die Donau war ihr erstes Delta. Und, wie es scheint, nicht ihr letztes …

Die Unschuld der Insel der Piratenfischer. Noch nie hatten Ausländer dieses gottverlassene und gewiss nicht romantische Eiland betreten. Bis zu diesem Tage.

Das Unwissen darüber, dass die Donau-Stromkilometer von der Mündung weg gezählt werden und nicht umgekehrt.

                                                                  

Am Strand der Delta-"Piraten". 

 

FINALE: Iwan: Schluss jetzt mit dem Gejammer ! Zieht lieber die Köpfe ein, wir sind schon da ! (Er hatte recht).

 

 

 

MOSKITO.VILKOVE.UA (FEMALE SHUFFLE)

Brille: Inna. Ungebetener Übersetzer: Fjodor.

 

 Kilometer null: Blick stromaufwärts

 

Kahn, Barke, Zille, Nachen, Kutter, Seelenverkäufer, Schaluppe, Nussschale (Heimvorteil in Vilkove !), Kutter, Gondel, Trawler, Yacht, Schlauchboot – was auch immer, wählen sie eines dieser Wasserfahrzeuge und sie sind dabei bei einer fluvial-maritimen Jagdgesellschaft. Für Unterhaltung ist gesorgt, auch wenn sie selbst nicht aktiv jagen. Und im weitesten Sinne zählt ja ihr Fotoapparat oder Smartfone auch zu den Jagdgeräten.

 

Lassen Sie uns beginnen mit einer Variante nah an der Realität. Sie haben sich einquartiert in einer lokalen Usadba (etwa: Herrenhaus), direkt an der Donau, die Herbergsleute verfügen natürlich (wie fast jeder hier) über mindestens ein Boot. Konkret: ein Motorboot mit rustikalem Chassis, 4 Sitzplätzen und einem kräftigen Außenborder, der wenns drauf ankommt, 50 km/h macht, pardon: 27 Knoten. Den Käptn nennen wir Iwan, galant weist er die beiden Passagiere auf der „VYL-935“ ein. Tuckert direkt aus dem Hausgarten einen winzigen Kanal entlang und auf die Donau hinaus. Vollgas Richtung Osten. Man genießt die Gischt und schweigt.

Das Highspeed-Vergnügen währt nur kurz, denn Iwan zieht das Boot scharf nach Backbord in einen von der Donau ab- und in den Ostteil von Vilkove hinein zweigenden Kanal, nur wenige Meter breit ist. Mitten hindurch durch kleinstädtisches Treiben tuckern wir gen Nordost. Dann bleibt Vilkove hinter uns zurück, der Skipper schiebt den Gashebel nach hinten und wir gischten wieder, eine Freude bei dieser tropischen Hitze. Der Kanal weitet sich, links und rechts eine Schilfmauer, baumlos, hügellos, ein Wasserweg wie eine Autobahn, freilich ohne Gegenverkehr, denn wir sind soeben in selten befahrenes Gebiet vorgestoßen. Der Kanal geht plötzlich in eine große Bucht über, Reiher, Störche und – da ! – eine ganze Kolonie Pelikane ! Kritische beäugen sie den motorisierten Eindringling, geraten aber nicht aus ihrer wohlerworbenen Ruhe.

 

 Im Revier der Pelikane: der Donauarm "Bistra".

 

Der Wellengang macht sich bemerkbar, es ist die steife Brise und: es sind die ersten Vorbooten des Meers, des Schwarzen Meers. Der Plan: Umrundung des Kaps Seleny Kut über das offene Meer, um dann in einen anderen Kanal Richtung Süden wieder einzufädeln. Dies gestaltet sich schwierig. Die Wellen fauchen immer feindseliger, die Gischt nimmt sich schon etwas zu wichtig und vor allem: zwischen den Wellen heult der im leeren rotierende Motor laut auf, als müsste er sofort kollabieren. Das klingt ungesund für den Laien. Aber auch für den Profi. Iwan, der noch vor 2 Minuten mit angriffslustiger Miene „Extreme !“ ausgerufen hatte, er holt nun die Leinen ein, gibt klein bei. „Мы должны повернуться, это слишком опасно сегодня с этим зыби - Wir müssen kehrt machen, es ist heute zu gefährlich bei diesem Wellengang".

 

Vilkove: Klein-Venedig für Arme

 

Man kann ihm nur beipflichten. Bei allem Vertrauen in den eingeborenen Kapitän war es nicht von schlechten Eltern, mit welchem metallischen Knall das Boot in die Wellentäler gestürzt war. Ende des Abenteuers. Schade einerseits, andererseits meldet sich der rundum versicherte Westler mit dem naseweißen Kommentar zu Wort: Die E-Card hätte hier keine Gültigkeit. Wie auch immer, geordneter Rückzug zum Otschakivsky-Arm der Donau, hart steuerbord zum Poludenne-Arm und am Firmament erscheint bald: ein großes Nichts bzw. die maritime Unendlichkeit des Schwarzen Meers.

 

Hier ist die Donau am Ende. Nach 2950 km lässt sie erstmals locker und ergießt sich in den östlichen Horizont. Für Mitteleuropäer ein transzendentales Erlebnis, kennen sie doch nur die biedere Binnenversion des zweitlängsten Stroms in Europa. Natürlich ist fotografische Dokumentation des ästhetisch recht gelungenen Monuments „0 km“ Pflicht und ein Vergnügen, das einem exotischen und lang erhofften Stempel in den Reisepass gleicht.

  

LANGSAMER ZUG IN LANGSAMER LANDSCHAFT *** Медленный поезд в медленном пейзаже

Achtzehn Stunden zwischen Kiew und Ismail (UA).

 

 

Die Dauer schreckt zunächst ab und scheint nur für wirklich hartgesottene Ost-Reisende genießbar. Allein: in der richtigen Buchungslasse (SV=1. Klasse) lässt es sich durchaus ertragen. Nein, kein Speisewagen,den mimt man sich schon selber. Das anfängliche Chaos bei Einfahrt des von einer martialischen dreiteiligen Diesellok gezogenen Zuges legt sich rasch. Jeder, der schon einmal in der Ex-SU Bahn gefahren ist, weiß, daß die staatlichen Provodnizas (Zugbegleiterinnen) Chaos keine Sekunde lang dulden und in ihrem Waggon (jede Zugbegleiterin hat genau einen) nur die mit dem richtigen Ticket, mit der akkuraten Platzreservierung lässt.

Das hat seine Vorteile, weil klare Verhältnisse herrschen und der westliche Bahnstress hier entfällt (dieser findet sich hier in anderen Bereichen). SV bietet Platz für zwei, möchte man sich Luxus gönnen, so kauft man ein ganzes Abteil. Abfahrt, raus aus dem Moloch Kiew, Fastiv, Vinnitsa, Schmerinka ziehen vorbei. Wir befinden uns in einem Schnellzug „niedriger Geschwindigkeit“, ein solcher hält öfter und länger und er scheint auch generell langsamer zu fahren, viel langsamer.

 

Man bedenke: unser Zug benötigt für den Abschnitt Kiew-Odessa 11 Stunden, die wirklich schnellen (und teureren) Züge nur 6 Stunden ! Wie auch immer, irgendwo zwischen Kotowsk und Rosdilna in den Schlaf gefallen, in Odessa kurz aufgewacht, festgestellt, dass es um 04.00 hier schon hell wird, eingedöst. Die Augen öffnen sich wieder, als das Schwarze Meer im Osten auftaucht, Buhaz, Zatoka, die sommerlichen Erholungsstrände der Odessiten. Allerdings bekommt man von der Bahntrasse aus sozusagen die eher unschöne Backstage-Seite dieser Urlaubsorte zu sehen, etwas, das nicht gerade zur Mundpropaganda einlädt. Vor Bilhorod-Dnistrovskyy beginnt der Dnister-Liman, in der riesigen Wasserfläche spiegelt sich die aufgehende Sonne zwischen Bronze und Gold.

 

Mit dem Einbiegen in die letzten 4 Fahrstunden bis Izmail fordert nun der Butschak* seinen Tribut in Form massiver Entschleunigung. Von wegen: bald erreichen wir die Donau ! Jedes einzelne Schaf kann ohne Problem fotografiert, identifiziert und mit einer kurzen Unterhaltung bedacht werden. Selbiges gilt für die dazugehörigen Hirten. Die Savanne wirkt hier noch unendlicher als sie ohnehin schon ist, das gemächliche Trödeltempo gestattet meditatives Zugehen auf diese Unendlichkeit.

 

Archaisch klingende Stationen wie Arzis, Sarata und das mysteriös anmutende Dzinilor kommen und gehen, dann hat man`s tatsächlich geschafft und rollt in Izmail übers Zielband. 18 Stunden und kein bisschen gedemütigt, nun ja, dank dem SV-Deal konnte man die Menschenwürde wahren und die Selbstachtung behalten. Gute Voraussetzungen, um Izmail näher kennenzulernen.

 

 *Butschak: historische Region, die Teile der Ukraine, Moldawiens und Rumäniens umfasst (siehe GLOSSAR)

 

 

ES GEHT NOCH LANGSAMER ! *** это еще медленнее

In zäher Zeitlupe von Reni (UA) nach Etulia (MD)

 

Die Sauna auf Schienen rafft Menschen in die Ohnmacht 

 

Ein vor Einsamkeit und Nichtbeachtung schniefender Bahnhof, geschlossene Kassenschalter, menschenleerer Wartesaal, kein einziges Auto auf dem Bahnhofsvorplatz – eine Handvoll Menschen auf dem einzigen Bahnsteig. Das ist Reni Hauptbahnhof (der zweite ist Reni Port). Ein scheinbar vor Jahren schon festgerosteter Güterzug brütet am übernächsten Gleis in der Spätnachmittagssonne. Plötzlich aber wird er bewegt, Puffer krachen aufeinander, kreischende Räder, knirschende Bremsen signalisieren Aktivität. Eine bullige Lok schiebt die klobigen Waggons vor sich her und von uns weg.

 

Eine Viertelstunde lang einzig und allein Grillengezirpe und sacht rauschende Nussbäume. Und dann – tatsächlich - ertönt von fern ein Signal, es kommt – nun, nicht gerade rasch, aber doch – näher. Unser Zug ist da, er quietscht und kreischt sich zum Stillstande (es wäre das definitive Ende eines an Migräne Leidenden). Es stellt sich heraus, dass die Hälfte der Handvoll an Passagieren aus zwei ukrainischen Grenzbeamten und der auffällig jungen Schaffnerin (Praktikantin? Wo ist der Ausbilder ?) .

 

Das Innere des einzigen Waggons verkörpert die in der Ex-SU übliche 3. Klasse (Platzkart). Leider in einem so desaströsen Zustand dass man auf der Stelle den TÜV oder eines seiner Pendants rufen möchte. Zusammengeritten wäre noch eine sehr höfliche Umschreibung. Als hätten Hooligans mehrfach gewütet oder der Waggon ein Kriegsgebiet ein paar Mal zu oft durchfahren. Diese quasi internationale Bahnverbindung gibt es zwei Mal pro Tag. Ob es sich rentiert für die Ukrainische Bahn ? Eine typische Westlerfrage, immer diese penetranten Fragen nach Effizienz. Zwei Stunden nur, so tröstet man sich, wohl wissend, dass bei dieser Hitze eine gnadenlose Dauersauna am Plan steht. So geschieht es auch. Mit einem unfassbaren Schneckentempo von geschätzt 20 km/h kriecht die Garnitur aus Reni und Richtung Nordost.

 

Die devastierten Außenbezirke von Reni werden abgelöst von ebensolchen Landgebieten, denen man zwar eine gewisse retromäßige Romantik zusprechen könnte, die in alle Richtungen ausufernde Vermüllung macht dies leider sofort wieder zunichte. Irgendwann hält der internationale „Express“ Reni – Etulia in einem Dorf mit Namen Frykatsei. Dort ändert sich innert einer Minute einiges: fast alle Passagiere steigen aus und werden ersetzt durch eine Hochzeitsgesellschaft, der Event soll offensichtlich in Etulia, also in Moldawien stattfinden. Zwanzig Personen jeden Alters sind in prächtiger Stimmung und feierlich gekleidet.

 

Bis zur Weiterfahrt vergeht allerdings noch eine halbe Stunde, da die staatlichen Grenzwächter der Ukraine ihre Arbeit tun wollen. Sodann der Pfiff der Lok, die rumpelnde Anfahrt und siehe da – plötzlich zeigt der Lokführer, was er drauf hat. Als hätte einer aus der Hochzeitsgesellschaft mit einem ziemlich wertvollen Geldschein gewinkt, wenn er ausnahmsweise mal das Bummeln unterlässt…. Jedenfalls rast jetzt die Landschaft geradezu vorüber, der Cahul-See, ein riesiges, silbern gleissendes Gewässer, über 40 Kilometer lang, bis Moldawien reichend. Verdorrte Landschaft, Schafe, Hirten und wieder von vorn.

 

Dann ein Bergabstück und es ist im Nachhinein unglaublich, dass der Maschinist (vulgo Lokführer) diese Stelle ungebremst in Angriff nahm, einem Skifahrer in der Kitzbühler Mausefalle nicht unähnlich. Da kann einem schon etwas bange werden, zumal der Zug in dieser Kompression dann auch noch über eine angejahrte, etwas porös wirkende Brücke donnert. Jawohl: donnert. Danach sofort eine scharfe Linkskurve – und vorbei ist`s mit der Achterbahnfahrt, Gleitstück bis ins Ziel. Die letzten Kilometer also wieder die Schnecke, möglicherweise um die Etulianer nicht zu penetrant mit kreischendem Bahnlärm zu verschrecken. Der Bahnhof von Etulia, oder eher: das, was man dort dafür hält, besteht aus einem Schild mit selbigem Namen in Moldawisch und Russisch. Grün auf Weiß. Die Fahrgäste für die Rückfahrt sind bereits am Bahnsteig versammelt.

 

Allerdings muss zunächst noch die moldawische Zollbeamtin ihre Bürokratie abwickeln. Beim Scannen zerknittert sie unabsichtlich den Pass des Korrespondenten, hält inne, errötet und blickt ganz schuldbewusst. Endlich raus aus der fahrenden Sauna. Natürlich gibt es hier kein Bahnhofsrestaurant – ohne real existierenden Bahnhof auch eine schwierige Aufgabe. Mein Blick trifft sich mit dem des Fahrdienstleiters, ich bitte ihn um Wasser. Komm mit, meint er, verschwindet im Administrationsgebäude und kommt zurück mit einem Eimer Wasser. Mit einer Tasse schüttet er mir Wasser auf die Hände, sodass ich Hände und Gesicht waschen kann. Das tut wohl ! Dankbar lächle ich ihn an und bedanke mich. Er sieht mich frappierend ernst und mit großer Aufmerksamkeit an. Als müsse er sich noch gewissenhaft davon überzeugen, dass er diesem beinahe Verdurstenden soeben und wirklich das Leben gerettet hat. Ich bin beeindruckt.

 

Eine Runde ums Gelände (nichts Beschreibenswertes), dann läuft schon das Boarding für die Rückfahrt. Ja, mit demselben Zug, im selben Waggon. Wieder die Grenzprozedur: Pass, Datenbankabfrage, Stempel. In Frykatsei dasselbe Verfahren mit den Ukrainern. Der zerknitterte Ausländer-Pass macht wieder die Runde. Und irgendwann, irgendwann landet unser Zeitlupenflieger dann wieder in Reni. Gott du Barmherziger !